Artikel von Heinz Grill:
Erspüren vs. Beobachten
Der Übende des Yoga vermag, nach den heute üblichen Praktiken, seine Aufmerksamkeit mehr auf die Muskulatur und deren spezifische Anspannung zu lenken, indem er intensiv in den Körper hineinspürt und die einzelnen verschiedenen Zonen wahrnimmt. Dieses Hineinspüren in den Körper und Erfassen der einzelnen Muskelpartien wird in Yogakursen sehr häufig gelehrt und mit dem Wohlbefinden emotional verknüpft. Um zu einer gesteigerten Dehnung und einem intensiveren Krafteinsatz im Rücken oder in den verschiedenen Gliedmaßen zu gelangen, benützt der Praktizierende meistens – hinzu zu dem emotionalen Spüren des Körpers – den Atem. Bei Anspannung atmet er beispielsweise ein und bei Entspannung aus und im Gesamten fühlt er mit dem kommenden Atem Kraft und mit dem weichenden Atem Gelöstheit.
Für die nun hier vorgestellte und interpretierte Übungsweise, wird der Atem jedoch keinesfalls zur Bewegungsaktivierung benützt. Im Gegenteil, der Praktizierende lässt den gesamten Rhythmus und den jeweiligen Fluss der Atmung frei und sogar möglichst leicht gewähren. Das intensive emotionale Erspüren des Körpers im Sinne von Wohlbefinden oder Schmerz, weicht einem übersichtlichen Beobachten, einem neutralen, gedanklich orientiertem Wahrnehmen, das sich nicht so sehr an die Gefühle des Körpers zurückbindet. Obwohl der Übende Behaglichkeit und Schmerz wahrnimmt, bleibt er in seinem Bewusstsein möglichst frei von diesen Erscheinungen und lenkt die Aufmerksamkeit verantwortungsvoll, bis er eine ästhetische und ideale Position einnehmen kann. Setzt der Schmerz der Bewegung beispielsweise eine Grenze, versucht der Übende diese nicht zu durchbrechen oder die aufkommende Spannung hinwegzuatmen, er beobachtet vielmehr die Verhältnisse gegenüber dem Körper und seinen verschiedenen emotionalen Reaktionen. Er macht sich nicht gänzlich von Behagen oder Unbehagen abhängig, sondern formt durch seine Vorstellungen eine zunehmende wachsende Gelöstheit, lässt bewusst den Atem leicht fließen und entwickelt schließlich ab jenem Moment der Entspannung und des ersten Frei-Seins vom Körper die erneute Formung und Anspannung für die asana. Eine lichte und ästhetische Ausdrucksgebung entsteht zuletzt in der Endstellung.
Heilwirkungen einer frei angesetzten Bewegung
Die Heilwirkungen des freien Atems und der gelöst angesetzten Bewegung sind sehr vielseitig und intensiv, jedoch immer indirekt, tendenziell mehr auf die Gesamtkonditionierung der Gesundheit bezogen. Im besonderen Maße entsteht durch die gelöst angesetzten Bewegungen eine Art feminine, weiche Konditionierung des Körpers, der Muskulatur, der Haut und der einzelnen Gliedmaßen. Ein gesunder Tonus, der weder zu hart noch zu weich das Gewebe belebt, wirkt im Allgmeinen heilsam auf den Bewegungsapparat und beugt frühzeitigen Abnützungserscheinungen und den so häufig überdurchschnittlichen bis hin zu brettharten Muskelspannungen vor. Der freie Atem mit gelösten und dennoch intensiven, bis zur Grenze des Möglichen geführten Bewegungen, bei Erhaltung eines beobachtenden Bewusstseins, entwickelt einen außerordentlich gesunden Gesamttonus im Körper. Frauen werden durch das Yogaüben nicht überdurchschnittlich muskulös sondern behalten eine femminine Leichtigkeit und Geschmeidigkeit bei.
Die wesentliche allgemeine Heilwirkung, die aus den gelösten und doch intensiven Bewegungen entsteht, betrifft jedoch das Immunsystem in seiner Reaktionslage. Der freie Atem strömt in die Lunge hinein und lässt infolge seines leichten schwerelosen Flusses die Atemmuskulatur relativ entspannt. Die Lunge selbst ist jenes Organ, das sich im luftigen Bewegungsleben rhythmisch gründet und mit den Alveolen, den kleinsten Einheiten der Lunge, die im Außenraum befindliche Luft berührt. Während die meisten Organe sich gegenüber der Außenwelt verschließen, begegnet die Lunge dem luftigen Umkreis gewissermaßen in jedem Moment des Lebens. Diese Begegnung mit der Außenwelt erscheint nun für die gesamte Reaktionslage des Immunsystems von größter Bedeutung.
Begegnung mit der Außenwelt als Voraussetzung einer gelösten Bewegung
Eine Begegnung mit der Außenwelt erlebt der einzelne Mensch ebenfalls mit der Nahrung. Unliebsame Bakterien, die sich im Wasser oder in bestimmten Lebensmitteln befinden, rufen entsprechende Immunreaktionen in der Verdauung hervor, bis der Organismus sein gewünschtes Gleichgewicht wieder gefunden hat. Wie verhält es sich nun mit der Atmung, die ebenfalls eine Begegnung mit einem Stoffe der Außenwelt, eben der Luft, darstellt? Nimmt nicht der Einzelne mit jedem Atemzug all jene Kräfte auf, die von der Außenwelt emotional durchtränkt sind. Sagt man nicht sprichwörtlich, dass gewisse Spannungen oder ungünstige „Wesen“ in der Luft liegen. Der Atemvorgang führt in jedem Falle nicht nur zu einer Sauerstoffversorgung der Organe, des Blutes und des Gewebes, sondern er transportiert all jene feinen und feinstofflichen emotionalen Kräfte, die sogenannterweise wie Wesen in der Luft liegen. Der Einzelne benötigt deshalb in dieser Begegnung eine erste und gesunde Unterscheidungsfähigkeit mit seinem Bewusstsein, damit seine Lunge weder zu eng noch zu offen auf die Berührung mit der Außenwelt reagiert.
Die gelöste Bewegung beginnt aus der Wahrnehmung und Vorstellungsarbeit des einzelnen Praktizierenden. Sie ist immer begleitet von einem leichten und freien Atem. Erst nachdem ausreichende Beobachtungsvorgänge stattgefunden haben, entwickelt der Übende den exakten und gewünschten Spannungsaufbau. Selbst aber bei diesem Spannungsaufbau lässt er in einer gegliederten Form gewisse Partien, wie den Schultergürtel, den Nacken und auch das Gesicht entspannt, er bearbeitet nur einzelne Abschnitte des Rückens und führt die Wirbelsäule in eine spezifisch dynamische Wölbung. Meist ist bei jeder Übung die Peripherie entspannter und ein Teil der Wirbelsäule entwickelt sich zu einer wirklichen, zentrierten Dynamik.
Frei angesetzte Bewegungen stärken das Immunsystem
Die Kräftigung des Lungenorgans durch den entspannten, freien oder sogar besser ausgedrückt anhebenden Atemprozess und durch eine sorgfältig tonisierte Muskulatur wirkt allgemein stärkend auf die Lebenskräfte des Menschen. Das humorale Immunsystem1) kann nun mit diesen Prozessen mit seinen spezifischen Reaktionen auf hervorragende Weise eingreifen, da der Übende gerade jene Vorbereitung entwickelt, die für die gesunde Abwehrbildung und gleichzeitig für eine gesunde Integration notwendig ist. Eine Immunantwort bedeutet nicht nur eine schnelle Eliminierung des untolerierbaren Verhältnisses, sondern es bedeutet vor allem, dass jene Unterscheidung zwischen den zu integrierenden Stoffen und den zu eliminierenden günstig stattfinden kann. Jede Reaktion, die im humoralen Immunsystem stattfindet, ist primär eine Integrationsbemühung, die jedoch auch darin ihren Ausgang finden kann, indem die nicht integrierfähigen Stofflichkeiten, seien sie feinerer oder gröberer Art, ausgeschieden werden.
Eine Bewegung, die zu stark in Spannung ist, oder die bereits in der Spannung beginnt, ohne gelöste Abschnitte des Körpers herzustellen, unterliegt förmlich und bildhaft gesehen der Schwerkraft, während eine Bewegung, die durch die Vorstellung und den freien Atem leicht und beflügelt ist, sich im Raum licht und unbeschwert orientieren kann. Es kann deshalb der nächste dynamische Schritt auf leichtere Weise eintreten, indem der Einzelne die zu starken Fixierungen auf den Körper durch sein Bewusstsein überwindet oder eliminiert.
Der Übende, der innerhalb einer Yogaposition die Prozesse der Gelöstheit, der Beobachtung und schließlich der gezielt vorgenommenen Spannungsentwicklung und des Spannungsaufbaues absolviert, fördert sein Immunsystem im Sinne eines spezifischen und physiologisch sinnvollen Eingreifens und stärkt darüber hinaus sein Lungenorgan zu mehr Lebenskraft und der damit verbundenen, heute so selten gewordenen, Lebensfreude.
Bitte beachten Sie auch die Videos zur Asanapraxis insbesondere das Video zum Handstand aus der Krähe. Weitere Hintergünde zu einer freien Bewegung finden sie in dem Artikel Die Bewegung aus dem Ätherischen.