Das Problem von Hierarchie und Gehorsam

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Hier handelt es sich um das dritte Kapitel der Borschüre „Orientierung und Ziesetzung des ‚Yoga aus der Reinheit der Seele'“

Der spirituelle Lehrer ist heute nicht mehr ein sogenannter „Guru“, der vom Schüler Gehorsam und Ehrerbietung fordern würde, sondern er befindet sich mit ihm in einer Art Arbeitsbündnis in einem fachlichen Austausch des Lernes und Strebens zu gemeinsamen Zielen.

Der Gehorsam gilt seit alters her als eine Kardinalstugend. In religiösen Systemen nahm und nimmt diese Tugend eine sehr wichtige Rolle ein, dies sowohl in östlichen wie auch westlichen Traditionen. Innerhalb der exoterischen Systeme und Lehrgebäude des Yoga existieren keine Hierarchiestrukturen, die eine zwingende persönliche Gehorsamsverpflichtung erfordern müssten. Die Tugend bezieht sich mehr auf die geistig-mentale Grundhaltung, die mehr in der Einheit der eigenen Individualität zum Tragen kommt.

Früher existierte eine sehr direkte und strenge Beziehung zwischen einem Meister und einem Schüler. Im orientalischen Yoga gibt es die Tradition der Guru-Weihe, die für unsere Kultur sehr befremdend erscheint und oft mit sehr negativen Argumenten kritisiert wird. Der Guru gilt in Indien als die verkörperte Gestalt Gottes, als die Wahrheit in der irdischen Form. Er ist für den Schüler das Absolute und stellvertretend für das unantastbare Selbst. So sah und sieht, teils bis zum heutigen Tag, der Schüler in seinem Guru sein eigenes Ich und das Ziel seiner Bemühungen. Eine vollständige und bedingungslose Unterwerfung unter den Guru wurde in Yoga-Systemen früher um des spirituellen Erfolges und Opfers willen gefordert.

Im Westen trat anstelle des Guru die Institution der Kirche, die eine zwar säkularisierte, aber zwingende und für alle gültige Wahrheit des Heiligen Geistes darstellt. Selbst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil nimmt die Kirche noch die Rolle des Seligmachenden ein und erwähnt, dass ohne Ausharren in ihr keine Erlösung möglich sei. Der Gehorsam gilt deshalb innerhalb der Kirche als eine Kardinalstugend.

Wie verhält es sich im »Yoga aus der Reinheit der Seele«? Das Lehrgebäude besteht aus vielen Einzelkörpern, die in individueller Weise die Verantwortung über ihre Arbeit tragen; es gibt keinen Direktor, kein Kontrollsystem, keine Revisoren, keine Ersten und Zweiten, keine Beauftragten, keine Priester, keine Geweihten. Jeder besitzt in seiner Position seine eigene Prokura. Weiterhin gibt es auch keinen Guru oder eine ähnliche Funktion, die hierarchisch auf andere wirken würde. Aus diesem Grunde entfallen die ansonsten üblichen Kulthandlungen, verehrenden Rituale, Anbetungen und Verneigungen. Der spirituelle Lehrer tritt nur in seiner Funktion in seinem Fachgebiet auf, und das ist die Förderleistung in Unterricht und Meditation zu tieferen Erkenntnissen, geistigen Einsichten, Entwicklung von künstlerischen, ästhetischen und spirituellen Empfindungen, Anleitung von Korrekturen und Demonstration von verschiedenen Übungen, Belebung der schöpferischen Möglichkeiten durch Konzentration und Steigerung der Wahrnehmung und energetische Entwicklung von inneren Seelensubstanzen. Der spirituelle Lehrer ist aber nicht ein Guru, der auf menschliche Weise und in persönlicher Form eine Unterwerfung von seinen Schülern fordern würde, und er ist auch nicht ein Direktor über ein Lehrgebäude, in dem er Angestellte und Bedienstete für sich beanspruchen würde. Wenn auch viele Schüler eine Liebe zu ihrem Lehrer zum Ausdruck bringen, so ist diese Liebe nicht von einem begrenzten und ergreifenden Charakter, sondern mehr der Ausdruck einer gehobenen, inneren Verfassung der Seele, die gleichsam wie eine Antwort auf die verborgene Dimension des Geistes entsteht und nicht von einem universalen Schimmer der Gnade unterschieden werden kann.

Der Schüler bringt dem Lehrer die natürliche Achtung und den natürlichen Respekt und, wenn sie in der Seele entwickelt ist, die innere, aber still bekundete Verehrung für den Geist entgegen. Die Achtung wird in der Gegenseitigkeit des Miteinander-Arbeitens und Kommunizierens als eine wesentliche Haltung und Tugend wertgeschätzt. Eine Gehorsamspflicht wird jedoch von einem Schüler auf dem Weg zu immer größer werdender Bewusstheit nicht gefordert, dies nicht im Hinblick auf den privaten Lebenswandel und dies auch nicht im Hinblick eines verpflichtenden Studiums. Der Schüler betritt mit dem Yoga-Studium nicht einen Orden, in dem er sich hierarchisch nach oben zu höheren Positionen arbeiten könnte oder in den er verpflichtend eintreten müsste um der Teilnahme willen.

Die Beziehungsverhältnisse, die in einer Lehrveranstaltung oder in Studienlehrgängen über längere Zeit hinweg existieren, schränken die Individualität des Suchenden nicht ein. Die Bewusstseinsverfassung der orientalischen Yogins war so sehr anders, so dass die vollständige Aufgabe des Ich dennoch nicht zur Aufgabe der Individualität im Inneren führte. Es war mehr ein äußerer und weltlicher Rückzug, der von dem Meister zum Schüler gefordert wurde, damit eine größere Reinheit und uneingeschränkte Zielsetzung zur Meditation gelebt werden konnte. Würde heute ein Schüler sich ganz einem Lehrsystem oder einem Lehrer unterwerfen, so wäre die Gefahr der Verwechslung von inneren und äußeren Persönlichkeitsstrukturen wohl so groß, dass der Schüler ganz seine Individualität und Schöpferkraft einbüßen würde. Im »Yoga aus der Reinheit der Seele« wird deshalb die Gehorsamstugend auf den individuellen Entwicklungsweg übertragen und somit ganz aus den äußeren, systemorientierten Hierarchien herausgehoben. Das Ziel des Yoga ist auch nicht, wie es das früher einmal war, eine Flucht aus der Welt, sondern ein bewusstes, geordnetes und lichtvolles Hineingehen in die Erscheinungsweise der physischen Wirklichkeit. Die Individualität gilt im Yoga nicht als eine säkulare und globale Einheit, die sich nach menschlichen Erscheinungsformen und Unterschieden definieren würde. Würden nur die äußeren Kriterien nach sichtbaren Persönlichkeitsmerkmalen und Eigenheiten die individuelle Wesensnatur des Menschen beschreiben, so wäre der Mensch als Entität in der Schöpfung nur innerhalb der physischen Verkörperung eine tatsächliche, eigenständige Erscheinung. Der Mensch ist aber in seinem gesamten Wesensbild eine physische, kosmische und höchste einzigartige Gestalt, die in einem unendlichen Werdeprozess zum Geiste floriert und gerade aus diesem unerschöpflichen Werden zum Geiste seine Individualität bewahrt. Aus diesem Grunde geht der Schüler auf dem Weg des Yoga nicht von einer passiven Erlösung durch Jesus Christus aus und er sucht nicht ein Credo, eine Kirchen- oder Gruppenzugehörigkeit, sondern mehr die Herausforderung des Lernens zu immer wieder neuen Dimensionen der Einsichten in eine schöpferische Wirklichkeit. In diesem Drange des eigenen Wollens nach den hohen Wahrheiten des Geistes entsteht die Belebung der individuellen Fähigkeiten und inneren Seeleneigenschaften, die sich mit Licht neu durchdringen, ordnen und in unendlichen Variationen mehr durch den Körper, den äußeren Träger, zum Ausdruck gelangen. Der Gehorsam verlagert sich deshalb von einem äußeren System hinein in die innere Individualität, die sich im eigenständigen Maße und Werdegang der Entwicklung mit den höheren Gedanken des Geistes austauscht. Mancher wird nur zehn Prozent einer inspirativen Schrift annehmen können, ein anderer vielleicht zwanzig Prozent, und wieder ein anderer wird einer Schrift vollständig zustimmen. Dasjenige Glied, das das Ich des Menschseins darstellt, das sich auch in gewisser Weise in einer gesunden Empfindung des Herzens widerspiegelt, erhält einen lebendigen Zustrom aus der inspirativen Wirklichkeit des Geistes. Der Schüler erhält seine Einzigartigkeit von innen heraus. Er sieht die Einzigartigkeit in den Gedanken und ihren freudigen Erscheinungsformen und belebt sie deshalb über das Lernen. Der Yoga ist in diesem Sinne praktiziert ein Weg, der auf umfassende Weise das Individuelle fördert und den Menschen vor dem Verfall in die Massensuggestionen der Zeit bewahrt.

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