Artikel von Heinz Grill:
Wie entsteht Bewegung?
Jedes Phänomen, das eine räumliche Veränderung innerhalb einer zeitlich messbaren Einheit vollzieht, ist allgemein mit dem Wort Bewegung benannt. Es existieren die verschiedensten Formen von Bewegungen wie beispielsweise politische oder physikalische, lineare oder kurvige, etc. Dem Phänomen der Bewegung ist immer die Veränderung, die sich gegenüber einem fixen Bezugspunkt zeigt, eigen. Im Allgemeinen spricht man von Lokomotion, die diese Veränderung innerhalb des Raumverhältnisses zur Offenbarung führt.
Für die Betrachtung der Bewegung im Sinne von künstlerischem Tanz, Yogaübungen oder allgemein menschlich getätigten Bewegungen, ist wohl die einfache Unterscheidung wichtig, dass sich ein physischer Körper von außen ohne hinzukommenden Antrieb oder, besser sogar ausgedrückt, ohne eine hinzugeführte Kraft in seiner Lokalität, in seiner räumlichen Dimension, nicht verändern kann. Der Stein, der vom Berge durch die Schwerkraft nach unten fällt, wird durch einen Anstoß von außen in Bewegung gebracht. Ebenso verhält es sich mit dem menschlichen physischen Leib, der eine Energiezufuhr von außen erhalten muss, damit er seine sogenannte Motorik in Tätigkeit versetzen kann.
Bewegung beim Menschen
Die verschiedensten Nervenimpulse, seien sie willkürlich oder unwillkürlich, das heißt bewusst geführt oder vegetativ unbewusst reagierend, führen Acetylcholin an die sogenannten motorischen Endplatten, an denen die Muskelimpulse stimuliert werden und mit der Bewegung antworten. Ein physischer Körper wäre ohne diese Impulsführung, die von außen an ihn herantritt und über die verschiedensten Nerven übertragen wird, vollkommen bewegungsunfähig. Die Muskulatur erscheint deshalb nicht am Anfang eines Bewegungslebens und selbst die Nervenimpulse, die noch vor der Muskulatur ihre reizvermittelnde Initialerkraftung spenden, erklären noch nicht das wirkliche Phänomen, das der Bewegung ursprünglich zugrunde liegt. Ein größeres Geheimnis, das sich den Augen und zunächst sogar der messbaren Erforschbarkeit entzieht, liegt jedem Bewegungsleben zugrunde. Die äußeren Veränderungen im Raum, die ein physischer menschlicher Körper täglich vollbringt, sind der Ausdruck eines größeren übergeordneten Kräftewirkens, das sich über dem Körper und sogar über den bewusstseinstragenden Nerven ereignet und das Phänomen der menschlichen Kinetik zur Offenbarung führt.
Während der physische Leib durch seine irdische Beschaffenheit, seine Knochen, Gefäße, Fasern und vielerlei bestehenden Substanzen ein statisches Gebilde zeigt, bewirken die verschiedensten sogenannten energetischen Prozesse, die über das menschlich lebendige Wollen vermittelt werden, ein regelrechtes aktives Bewegungsleben. Der Körper wäre reiner Körper, der Schwerkraft und Immobilität verfallen, wenn ihn keine atmende Seele und wenn ihn keine Flüssigkeiten, die ein Lebenskräftewirken erhalten, bewegen würden. Die Atmung geht der Bewegung voraus und je nachdem, wie mächtig die Fluten des menschlichen Begehrens sind, atmet sich die Seele in das irdische Dasein mit vielen mobilen Ausdrucksformen hinein.
Gängige Erklärungsmodelle reichen nicht aus
Die Erklärungsmodelle, die heute die Bewegung, sowohl von ihrem chemischen als auch von ihrem physikalischen Zusammenwirken interpretieren, beginnen mit den Beobachtungen am physischen Leib und erklären schließlich alle Phänomene innerhalb der sinnlich fassbaren Wirklichkeit. So heißt es beispielsweise in der Schrift „Yoga Anatomie“ von Leslie Kaminoff auf Seite 17:
„Die Atmung, das Aufnehmen von Luft in die Lunge und das Hinausleiten von Luft aus der Lunge wird durch eine dreidimensionale Verformung der Brust- und Bauchhöhle verursacht. Eine solche Definition der Atmung erklärt nicht nur, was passiert, sondern auch, wie es gemacht wird. Für das Ausüben von Yoga hat dies tief greifende Implikationen, denn es bringt uns dazu, uns mit der Wirbelsäule zu befassen.“
Der Yoga, aber nicht nur dieser, selbst auch die Schulmedizin, beschreiben die Phänomene der Bewegung durchaus in Zusammenhängen, aber nur in Zusammenhängen, die die verschiedensten Körpersysteme selbst betreffen. Wird die Atmung tatsächlich von der Dreidimensionalen Verformung der atemangrenzenden Muskulatur verursacht? Mit jedem Atemzug, so heißt es, bewegt sich nicht nur das Zwerchfell, der Brust- und der Bauchraum, sondern es verändert sich auch die Wirbelsäule. Es kann sogar gesagt werden, dass bei jeder kleinen Bewegung – sei sie nun eine Atembewegung oder eine muskuläre Bewegung der Gliedmaße – immer der ganze übrige Körper ein feines Miterleben und Mitschwingen einkalkuliert. Die Frage, woher jedoch die Bewegung ursächlich kommt, und welche seelisch-geistige Dimension ihr zugrunde liegt, bleibt in diesen Interpretationen, die man allgemein schon als ganzheitliche Modelle bezeichnet, unberücksichtigt.
Welche Rolle spielt der Ätherleib für die Bewegung?
Der Ätherleib des Menschen, der nach der Anthroposophie nach dem physischen Leib, das nächst feinere Wesensglied darstellt, kann für die Erklärung der Bewegung eine ganz bedeutungsvolle Perspektive eröffnen. Was ist dieser Ätherleib? Was bedeutet das ätherische Fließen, das nicht mit den Augen sichtbar ist und dennoch als eine Lebensempfindung im Inneren des Körpers wahrnehmbar ist? Der Yogin spricht von prana und meint mit diesem Wort das Atmen, das sich aus „pra“, was so viel wie „hervor“ heißt, und „an“, das „blasen“ oder „atmen“ heißt, zusammensetzt. Er verbindet aus historischen Überlieferungen den Atem mit den energetischen Abläufen, die im Körper stattfinden. Atmung bedeutet Bewegung und wenn man gut atmet, so kann man mithilfe dieser den Körper energetisieren und ihm zu erstaunlichsten Bewegungen verhelfen. In Bezug auf die Art und Weise der Anwendung des Atmens gibt es jedoch die verschiedensten Techniken und Erfahrungswerte. Der Ätherleib des Menschen ist eine Art Energieleib, der Pranaleib, wenn man ihn der Einfachheit willen übersetzen möchte, und dieser beeinflusst sich ganz maßgeblich von der Art und Weise wie der Rhythmus und die Qualität der Atmung stattfinden.
Geistig gesehen arbeitet der ätherische Leib des Menschen nach dem Prinzip der Schwerelosigkeit und des ständigen In-sich-Bewegtseins. So wie alle Energie nur dadurch frei verfügbar ist, indem sie bewegt ist, so ist das Fließen des ätherischen feinstofflichen Elementes dem Leben verfügbar, da es im ständigen Fluss eines Auf und Nieder tätig ist. Der physische Körper kann sich für Momente der Schwerkraft entheben, indem er sich in die vertikale Linie mit seiner Wirbelsäule aufrichtet. Wie aber geschieht dieses Aufrichten wirklich? Es ist zunächst der Ätherleib, der die Kraft zu diesem Aufrichten entgegen der Schwerkraft vermittelt. Wie aber tätigt dieser Ätherleib im etwas genaueren Maße dieses Aufrichten?
Die sensorischen Nerven verändern die Qualität der Bewegung
Im Allgemeinen spricht die schulmedizinische Erklärung von efferenten Nervenbahnen, den sogenannten motorischen Nerven, die die Bewegungsimpulse vermitteln. Nach den üblichen Auffassungen denkt man mit der Motorik die Bewegung von einem Zentrum ausgehend hinaus zur Peripherie und neigt dazu, die Muskelsysteme in ihrer Kraftumsetzung überzubetonen. Sehr wenig Beachtung gewinnen in diesem allgemeinen Denkmodell die sensorischen Nerven oder afferenten Bahnen, die die Wahrnehmung von der Peripherie zum zentralen Nervensystem tragen. Während die Motorik zunächst als sichtbarer Vollzieher der Bewegung erscheint, bleiben die Wahrnehmung und die sensiblen Systeme, die in der quantitativen Anlage mehr sind als die efferenten oder sogenannten motorischen, unberücksichtigt.
Der sensible Nervenimpuls oder die Wahrnehmung, die sich von der Peripherie zum zentralen Nervensystem übermittelt, geschieht entweder bewusst oder unbewusst. Wird sie beispielsweise bei der Yogaübung sehr bewusst getätigt, so stellt sie einen Moment der Ruhe oder anders ausgedrückt, der Bewegungslosigkeit dar. Jeder bewusst getätigte Gedanke und jeder Moment der ganz bewusst wahrgenommenen Sinnesregsamkeit, wirkt gegenüber dem treibenden Willen wie eine Zurückhaltung. Stille tritt für einen Augenblick ein und die Umgebung nimmt ein unmerkliches anderes Größenverhältnis an. Das bewusste sensible Erleben mit einem klaren Vorstellungsinhalt und einer Wahrnehmung erschafft gerade jene Situation, dass der eigene physische Leib zurückweicht und die Umgebung im Raume neu erlebt werden kann. Der innere Raum des Leibes sammelt sich, während der äußere Raum zur Weite erscheint. Es ist das bewusste sensible Erleben mit einem Loslassen des physischen Leibes vergleichbar.
Das Prinzip des Sammelns und Ausdehnens in der Bewegung
In dem bewegenden Leib des Äthers lebt ein unendliches Sterben und Werden oder, anders ausgedrückt, das ständige sich Sammeln und neu Ausdehnen. Eine Bewegung führt immer zu einer Gegenbewegung und diese, wenn man sie genau betrachtet, ist so wie in der Herzkammer, in die das Blut einströmt, für einen kaum messbaren Moment stillsteht und schließlich erneut mit der Systole in eine große Bewegung hinausgleitet. Aus dem Moment der Stille entsteht die Bewegung oder anders ausgedrückt, aus dem Ablösen entfacht sich die Energie, die die Bewegung ermöglicht.
Die sensiblen Nerven sind für die Bewegung unersetzbar, denn diese geben erst das Fundament, das in der Folge schließlich die einzelnen weiteren chemischen Prozesse entfacht, und sie ermöglichen, dass die Art Schwerelosigkeit, die nämlich für Bewegung notwendig ist, eintreten kann. Für jede Bewegung – und sei sie noch so vital im Fitnessstudio trainiert – ist dennoch immer ein Moment der Loslösung notwendig, ein Moment der Sammlung, der Sensibilität, damit die Lokomotion, die nächste Lageveränderung in ihre Geburt treten kann.
Die Kunst der Bewegung
Indem man diese Gesetze der sensiblen Nerven studiert und die Bewegung nicht nur auf rein mechanische Weise trainiert, kommt man langsam zu der Erkenntnis, dass das Element der Loslösung, des sich Befreiens von aller physischen Fixierung, die leichte und elegante Kunst der Bewegung eröffnet. Aus diesem Grunde ist auch der freie Atem für ein schönes und leichtes Bewegungsleben so bedeutungsvoll, denn wenn man den Atem zu stark an den Körper fixiert, nimmt die Ausdrucksgebung der einzelnen Yogaübungen oftmals eine sehr physische Schwere an. Der Tanz, bei dem der Atem leicht bleibt, und dem eine sorgfältige Choreographie, das heißt eine klare Vorstellung zugrunde gelegt wird, äußert meistens leichtere Bewegungen, als es jene sind, die zu sehr im Atemverhalten mit oftmals mechanischen Voraussetzungen getätigt werden. Zuletzt sind es aber auch die einseitigen körperorientierten Vorstellungen, dass es die Muskeln seien, die die alleinigen Kräftepotentiale verfügbar machen und die die gelungene Bewegung erst darstellen würden.
Für die Bewegung mit dem freien Atem sind die exakten Vorstellungsbilder mit der Bewegung verbunden unerlässlich, denn diese erschaffen gerade jene Ätherkräfte in einem Verhältnis zur Spannung und Entspannung, die notwendig sind, damit der Körper leicht und entgegen der Schwerkraft seine gewünschte neue Formung einnehmen kann. Der Moment des Loslassens und wieder der Moment des Ergreifens sind unmittelbare, nachgeahmte Bewegungsformen, die der Ätherleib natürlicherweise vollbringt, und diese können in der Asana, in der Körperübung des Yoga, ihren schönen und freien Ausdruck gewinnen.
Der Moment der Schwerelosigkeit in der Bewegung
Eine Übung, die sehr schwierig ist, zeigt auf bildhafte Weise die Momente des Loslassens und des wieder Sammelns. Der Handstand, vrksasana, aus der Krähe, bakasana, könnte vielleicht durch viel Training erfolgen. Indem sich der Übende jedoch einer Vorstellung hingibt, wie er für Momente den Körper der Schwerelosigkeit übergibt und sich wieder am Ende neu sammelt, führt er meistens viel schneller die asana zur Perfektion. Gleichzeitig gewinnt die Ausdrucksgebung durch die Vorstellungstätigkeit eine Art Körpergelöstheit und eine sensible offene Dimension der Sinne bleibt vorhanden. Die Schönheit der Bewegung kennzeichnet sich tatsächlich durch die Bewusstheit und die Freiheit vom Körper. Der Wille bleibt besonnen und die Aktivität wird durch die sensible lichte Bewusstheit veredelt.
Der Handstand ist eine sehr schwierige Übung. Leichtere Übungen wie das Sonnengebet oder sogar noch leichtere einfache Bewegungsformen können für jeden Übenden mit dieser Idee des freien Atems, der Vorstellungsbetätigung und schließlich des Loslassen und rechten Ergreifens getätigt werden.
Weitere Hintergünde zur Bewegung finden Sie demnächst in dem Artikel Die Heilwirkungen der gelösten Bewegung. Beachten Sie auch die Videos zu den Yogaübungen sowie Bilderserien zum Kopfstand, Fisch, Bogen und Sonnegebet.