Von Heinz Grill:
Das Problem des Demonstrierens
Das Demonstrieren gegen politische, wirtschaftliche oder legislative Entscheidungen muss in einer Zeit, in der die Freiheitsrechte des Menschen ohne ausreichend rationale Begründung beschnitten werden, steigen. Viele Menschen versammeln sich in den verschiedenen Kundgebungen und rufen zu einer Erfüllung, Wahrung oder besser gesagt zur Errettung und Wiederetablierung des Grundgesetzes auf. Diese Bemühungen der Demonstranten, obwohl sie zu würdigen sind, müssen jedoch, so traurig wie das klingen mag, scheitern. Die Ursache für dieses Scheitern lässt sich nur aus einer geistigen fundierten Sichtweise, die die menschliche ganzheitliche Entwicklung in die Mitte stellt, erklären.
Die geistige Sicht
Wie erlebt die geistige Welt die polaren Positionen, die ganz besonders mit den Vorgaben der Coronazeit mit unentwegten und unlösbaren Diskussionen entstehen? Um diese Frage zu klären, muss man die Bedeutung des sogenannten Erzengels studieren und sich ein Gefühl aneignen, wie dieser Himmelsbote die irdischen Umstände wahrnimmt und beurteilt. Dieser Erzengel ist, um es kurz und ohne Erklärung zu sagen, der Führer der Menschheit und der verschiedenen Menschheitsepochen. Sicherlich lässt sich der Erzengel auf wissenschaftliche Weise nicht erklären und die Aussagen, die aus einer esoterischen Sicht darüber gemacht werden, kann man nun glauben oder als Phantasterei verneinen. Folgt jedoch der Betrachter einer sehr logischen und detaillierten Anschauung der Umstände, kann er die geistige Instanz, die der Erzengel offenbart, zu einem relativ hohen Grade erfassen und erleben. So wie man das Wachstum einer Pflanze nicht direkt sehen kann aber die Ergebnisse dieses Wachstums in den Formveränderungen und Größenzunahmen als Realität erschließt, so kann man auch ohne geistiges Schauen diesen Erzengel als existentielle geistige Dimension zu einem gewissen Grad relativ logisch erschließen.
Während der sogenannte Engel, der angeloi, mehr für die persönliche Sphäre des menschlichen Daseins wirksam ist, führt der Erzengel eine höhere übergeordnete Aufgabe der Entwicklung aus und fördert das Wohl einer ganzen Nation, einer Gruppe oder Kultur. Er ist auf die Zeitepochen und deren spirituelle Entwicklung hingeneigt.1) Erzengel, archangeloi, werden in der esoterischen Literatur als Feuergeister bezeichnet (Sanskrit: aginishvatta). Nach Rudolf Steiner bringen sie das Leben des Einzelnen und das Leben größerer Menschheitszusammenhänge in eine harmonische Ordnung. Sie sind Inspiratoren ganzer Völker, die von ihnen geleitet werden. (Rudolf Steiner GA 110 S. 93)
Das Gefühl des Erzengels
Hochinteressant erscheint das sogenannte Gefühlsleben einer geistigen Wesenheit, wie es dem Erzengel entspricht. Natürlich muss erwähnt werden, dass ein Himmelsbote völlig anders erlebt und empfindet, als eine menschliche, im irdischen Dasein ringende Kreatur. Es lässt sich jedoch das Gefühl des Erzengels in einigen wesentlichen Punkten sehr feinfühlig und doch auf ahnende Weise zu einer Aussage erfassen. Es ist etwa dieses Gefühl vergleichbar mit dem menschlichen Empfinden, dass es auch eine Perspektive geben kann, die nicht von unten nach oben, vom Tal zum Berge blickt, sondern vom Berg herunter zum Tal oder von einem Flug des Adlers ausgehend zum Daseinstreiben des Weltlichen. Die Augen dieses Himmelsträgers blicken beispielsweise auf Demonstrationen und auf die Medien, wie aus der Flugperspektive. Sie blicken auf Politiker, auf die Polizei und auf die ringenden Bürger. Jegliche Form der Polarität, des Streites, des demonstrierenden Antretens gegen politische Einschränkungen interessieren diese geistige Wesenheit nicht. Der Erzengel hat so wenig Sinn für die menschlichen polaren Diskussionen, wie ein Adler für Tiefseetauchen. Die Welt erscheint für den Erzengel befremdend und nichtssagend, interesselos und nichtig, denn diese ringt in gegenseitigen Positionskämpfen und um einen belanglosen Erfolg eines Standpunktes. Es hat jemand vor einem Publikum Recht, aber dieser Standpunkt existiert in der geistigen Welt mit den Entwicklungsfragen nicht. Den Erzengel interessiert das Werden einer wirklichen Kultur, eines Inhaltes für die Seele, die sich nicht nur zum persönlichen Heilwerden des Einzelnen ausspricht, sondern zum Wohl eines Ganzen. Die individuelle Natur des Menschen soll durch einen seelischen Reichtum zur Erhebung und Beglückung einer ganzen Gruppe, Nation oder Zeitepoche werden.
Wann führen Demonstrationen zum Erfolg?
Eine Kundgebung, Demonstration oder eine öffentliche Rede müsste, damit der Erzengel sich für diese interessiert und sie zum Erfolg führt, nicht gegen eine Maßnahme gerichtet sein, sondern sie müsste für eine vorstellbare und inhaltsreiche Zukunft sprechen. Das Demonstrieren als Grundrecht des Menschen dürfte nicht das Grundgesetz auf dem Rücken tragen und mit dem Finger auf die Verletzungen zeigen, die der Staat mit seinen Maßnahmen begeht. Eine große Disziplin der Zurückhaltung gegenüber dem Negativen, Untragbaren und den Missständen muss sich der einzelne Demonstrant mit eiserner drakonischer Stärke auferlegen. Seine Bemühung in Wort, Gestik und Darlegung sollte in eine idealere und zukunftsfreudige Richtung erfolgen und dies nicht nur theoretisch, ideologisierend, pauschalisierend oder schwärmerisch, sondern mit konkret geschilderten definitiven Inhalten. So wie jegliche Form der Mission einer Religion nur zu leidlichen Erfahrungen führen kann, im gleichen Sinne erfolgen die Gegenmissionen der Demonstranten, die trotz berechtigter Argumente den Staat und die Obrigkeiten nicht beeindrucken können. Würden jedoch die Demonstranten auf ihre ganze Verletztheit der Rechte erst einmal verzichten und sich zu einer konstruktiven Zukunftsvision zusammenschließen, in der sie das Ideal des Menschseins und der besten sozialen Möglichkeiten, der wartenden Kulturbausteine und einer wahren Menschenliebe in praktischer Form erarbeiten, so würde der Erzengel sofort seine Augen und seine Ohren neugierig ausrichten. Diesen Himmelsboten, der eine Führerschaft über die Menschheit ausdrückt und fördert, bewegen alle praktischen, spirituellen, wahrheitsgetreuen und polaritätsfreien Inhalte und er nimmt sie wie mit Flügeln auf, die er über die Menschheit hinüberschwingt. Er führt die Menschen, die spirituelle und kulturell hochwertige Ideale denken, in eine größere Spannweite. Er ist wie der Adler, der souverän in den Lüften kreist und die Luftreiche beherrscht.
Die Wege, die der Mensch jedoch zur Entwicklung eines praktischen, spirituellen und sozial hochwertigen Ideales begehen kann und soll, sind anspruchsvoll und verlangen ein regelrechtes Studium. Ein Friede kann erwünscht werden, aber es wird für den, der für Frieden demonstriert, eine große Herausforderung, wenn er die Strukturenelemente, Verhaltensformen und psychologischen Grundlagen für eine friedvolle Gesellschaft entwerfen muss. Er wird mit Sicherheit keine Zeit zum Debattieren und langen Kampf um die kleinlichen Verletzlichkeiten, die der Einzelne austrägt und beschwichtigt, haben. Gleichzeitig muss aber der einzelne Demonstrant, der zur Kunst der Kulturförderung aufsteigen möchte, sich mit den Gesetzen, den Bedingungen, den Lügen der Zeit ausreichend auseinandersetzen. So wie der Adler das weltliche Treiben von oben beobachtet und doch in den Lüften bleibt, so muss der Mensch eine genaue Vorstellung von den Gefahren und Bedingungen der weltlichen Negativität erarbeiten. Er kann seine Argumentation an dem Negativen der Welt aufrichten, jedoch nicht primär, sondern er kann nur vom bereits gedachten und gelebten Ideal die Umstände der Zeit tolerant beurteilen. Es lebt eine Logik im Negativen, diese wird jedoch erst sichtbar, wenn eine größere Dimension zur Manifestation gelangt. Derjenige, der die Kunst des Demonstrierens entwickelt, ist hochgradig zu einem weiten Schritt über einen Ozean der Widersprüche herausgefordert und muss förmlich einen neuen Kontinent, der noch nicht in der Landkarte eingezeichnet ist, betreten. Den Erzengel interessiert der Aufbau einer wirklichen Kultur, die alle Seelen erhebt und die Stimmungen zu eleganten, schwebenden Flügen, gleichsam wie die des Adlers, versinnbildlicht. Die Kunst des Demonstrierens besteht in der Fähigkeit, die besten Ideale auf verständliche, praktische und universal gültige Weise in der Öffentlichkeit darzulegen.
Bitte beachten Sie auch folgendes Gespräch zu diesem Thema:
Anmerkungen
⇑1 | Erzengel, archangeloi, werden in der esoterischen Literatur als Feuergeister bezeichnet (Sanskrit: aginishvatta). Nach Rudolf Steiner bringen sie das Leben des Einzelnen und das Leben größerer Menschheitszusammenhänge in eine harmonische Ordnung. Sie sind Inspiratoren ganzer Völker, die von ihnen geleitet werden. (Rudolf Steiner GA 110 S. 93) |
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Es ist begrüßenswert wenn junge Menschen für eine gute Sache wie den Naturschutz demonstrieren. Die Welt wäre ohne diese Initiativen noch ärmer. Die erste Auseinandersetzung im Kampf für Gerechtigkeit ist meist eine bleibende. Glaubten wir in unseren jungen Jahren nicht daran, die Welt zum Guten verändern zu können? Der wissensdurstige Intellekt, die Emotionen und das schöne Gemeinschaftserlebnis ließen uns oft gar keine andere Wahl, als gegen Feinde zu kämpfen. Wackersdorf … ja, ich erinnere mich gut, als braver Junge einfach mitgezogen, die Hosen voll von Angst, stand ich plötzlich vor jungen Polizisten, denen die Angst ebenso im Gesicht stand. Ich bekam eine Ahnung vom Krieg, dem großen Verbrechen. Diese Angst begleitet meine Biografie, hat mich weniger erfolgreich werden lassen und vielleicht deshalb dazu beigetragen, dass ich im Ausgleich eine gute Fantasie und Empfindungsgabe entwickeln konnte. Vorstellungsgabe verhilft zu mehr Lebendigkeit in der Begegnung und kann im Beruf sehr behilflich sein, doch sich darauf auszuruhen und sich in seiner fantasievollen Art zu genügen, ist Selbstbetrug.
Wenn wir über das Demonstrieren hinauskommen wollen, nicht in der ermüdenden Auseinandersetzung des Persönlichen verhaftet bleiben wollen, müssen wir anders schauen lernen. Die Ungerechtigkeit der Welt werden wir nicht ungeschehen machen, aber die Ungerechtigkeit die wir uns selbst und im Umgang mit anderen antun, müssen wir angehen. Schon Friedrich Schiller betont in seiner ästhetischen Erziehung, dass unsere „Bestimmung“ oder die „transzendente Vernunft das von uns einfordern“. Dieses Schauen ist keine lose Folge von Gedanken, sondern das konkrete Formen einer Sache im Bewusstsein, so dass auch Empfindung hinzu kommen kann. Wir wirken so auf die Sache oder auf den Menschen unmittelbar förderlich. Diese „Vernunft“ wird, „da sie göttlichen Ursprungs ist“, immer das Ideal suchen. Sie will, dass wir uns über die individuelle Bedürftigkeit hinaus erheben und höhere Ziele verfolgen. Die höhere Ebene der Zusammengehörigkeit ist die Ebene des Erzengels.
Die Angst ist das größte Hindernis, Inhalte in die Welt zu bringen. Daher darf sie uns nicht vereinnahmen. Nur die „reine Vernunft“ kann sie durch klare, bewusst vorgenommene Gedankengestaltung, eine persönliche Aufrichtung und Ausrichtung in die Schranken weisen. Dadurch gewinnen wir ein Ich-Bewusstsein, das im göttlichen Gedanken gründet und sich selbst erkennt. Aus diesem Kern bringen wir spirituelle Inhalte mit praktischer Ausrichtung hervor. „Unsere Zeit ist schwach geworden im Denken des Ideals“, die Moderne ist rigide und kalt, ich erlebe es in der Architektur. Aber die „Forderung ist an uns gegeben“, kein Weg führt an der Entwicklung höherer Ziele vorbei. Wer sie erkennt, weiß um ihre vortreffliche Wirkung für alle unsere Handlungen und Begegnungen.