Von Heinz Grill
Die Kritikfähigkeit sich selbst, anderen und den verschiedenen Erscheinungsformen der Welt gegenüber, bildet eine Eigenschaft des sogenannten Herzchakra oder anders ausgedrückt, des Energiezentrums, das auf der Höhe des Herzens liegt. Ein Chakra ist wie ein Rad, gleichsam wie ein rund sich drehender Kreis. Es besteht im Astralleib oder in den feinen Bewusstseinsschichten des Menschen und kann die verschiedensten Entwicklungsstufen markieren. Mit den Augen ist es unsichtbar, doch mit einigermaßen entwickelten seelischen Empfindungen lässt sich seine feinstoffliche Existenz erahnen und erfühlen. Im Allgemeinen führt eine konstruktive Kritik zu einer günstigen Entwicklung des Herzchakras, während alle Schmähkritik, emotionale Überheblichkeit, Lügenraffinessen und unsolide neidische Eifersucht dieses Zentrum in seiner feinstofflichen Energie zerstören.
Rudolf Steiner nannte beispielsweise die Toleranz als eine Tugend, die zur Entfaltung der Herzlotusblüte notwendig ist.1) Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten, Rudolf Steiner Verlag 1982,
S. 128 f. Die Fähigkeit, Kritik auf objektive Weise sich selbst gegenüber und auf konstruktiv sachliche Weise gegenüber den Erscheinungsformen des Lebens zu üben, ist eine Vorbedingung für die große Tugendeigenschaft der Toleranz. Ein ängstliches, zurückgehaltenes Schweigen gegenüber Lügen und negativen Erscheinungen des Lebens darf keinesfalls mit der Tugend eine Verwechslung erhalten. Mut ist zur Toleranz notwendig. Vielleicht schweigt jemand aus Mut, wenn er eine negative Erscheinung des Lebens erlebt, aber dann tut er dies aus Weisheit und setzt sich im Stillen seiner Seele kritisch mit dem Phänomen auseinander. Sein Herzensfühlen bleibt im Strom der Entwicklung.

Zeichnungen: Anne-Michèle Hambye>
Ein sehr belastendes Phänomen für das Herz, sowohl psychisch als auch physisch, ist eine vernichtende Kritik. Allgemein bezeichnet man diese als Schmähkritik und sie richtet sich fast immer auf unsachliche Weise an eine Person, die angeschwärzt, bewertet und vor anderen in ein verächtliches Licht gebracht werden soll. Es sagt jemand zu seinem Kameraden: „Du bist zu dumm, um die Worte, die von mir gesprochen sind, zu verstehen.“ Diese Kritik ist schmähend und beleidigend, da sie den Menschen in seinem individuellen Vermögen nicht nur abwertet, sondern ihm darüber hinaus die Möglichkeit zur Entwicklung raubt. Es handelt sich um eine unsachliche Beziehung, die mit der Kritik beginnt. Grundsätzlich ist jede Polemik, die sich an die Verminderung des individuellen Seins richtet, ehrverletzend und schränkt die Entwicklung eines gesunden Sinnes für das menschliche Miteinander ein. Darüber hinaus lassen Schmähkritik und einseitige, unsachliche persönliche Bewertungen das Herzzentrum gar nicht zur Entfaltung kommen.2) Die Fähigkeit zur rechten Urteilsbildung wird unter den 10 Seelenübungen dem Planeten Saturn zugeordnet. Die Entwicklung einer tiefgründigen Urteilsfähigkeit wirkt stabilisierend und befreiend auf traumatisierte Personen und schützt vor falscher Emotionalität.
Eine konstruktive Kritik gründet sich in einem sachbezogenen thematischen Zusammenhang, und obwohl sie vielleicht an einen Menschen und sein Werk gerichtet ist, vermindert sie nicht das Persönliche, sondern beleuchtet die geäußerten Worte, Handlungen und Erscheinungen. Das Motiv zur Kritik ist dann nicht mehr, den anderen zu schädigen, sondern Wahrheiten und deren sinnvolle Integration zu fördern. Gandhi beherrschte auf hervorragende Weise diese Kritik, denn er unterschied zwischen den Menschen, die Indien besetzten, und hob aber sehr kritisch und uneingeschränkt die Unmöglichkeit der Besatzungspolitik der Engländer hervor. Das Motiv seiner ganzen Bemühung lag in der Erhaltung des Menschseins und in der Erhöhung der Wertigkeiten, sowohl des indischen Volkes als auch des englischen. Das Thema, das er verfolgte, war die politische und staatliche Unabhängigkeit.3) Die indische Philosophie nimmt die Worte ahimsa und himsa, Gewaltfreiheit und Gewaltanwendung in besonderem Maße nicht nur für Handlungen, sondern des Weiteren für die Wahl und Anwendung von Worten. Sind Worte sehr vernichtend geprägt und mit der willentlichen Absicht zu schädigen gesprochen, so verletzen diese das Gebot ahimsa, der Gewaltfreiheit.
Alle Beschimpfungen, Werturteile und Angriffe gegen andere, die in persönlicher Form stattfinden, selbst wenn sie aus gefühlshafter Verletztheit entstehen, rauben dem, der diese als Aggressor vollbringt, das Seelenlicht und jegliche feinfühlige Empathiefähigkeit. Der Mensch wirft sich selbst auf seinen physischen Leib zurück und er wird trotz vielleicht mancher äußerlichen Vitalitäten hässlicher. Typische Beleidigungsformen sind beispielsweise, den anderen wegen seines Glaubens zu beschimpfen, ihn als Sektenmitglied zu entmündigen oder allgemein über ihn allerlei Unwahrheiten zu verbreiten, die geeignet sind, ihn vor der Öffentlichkeit zu stigmatisieren. Lüge und Unsachlichkeit, Verwerfungsabsicht und Aggression leben als Kraftpotentiale immer in der sogenannten Schmähkritik.
Die konstruktive Kritik hingegen ist empathisch gestimmt, denn sie versetzt sich in die Argumentation eines anderen hinein, eruiert den Wahrheitskern der Worte und versucht die Bezüge, in denen sich der andere befindet, zu verstehen. Nicht nur der äußere, sondern auch der innere Gehalt der Worte ist dann von Bedeutung. Aus dieser einfühlsamen Bewusstheit entwickelt die konstruktive Kritik inhaltliche Richtigstellungen, Verbesserungen, Erweiterungen, Erklärungen, angemessene Vergleiche und erhöht das Thema. Aus diesem Grunde ist die konstruktive Kritik immer wünschenswert, und sie ist ein Teil der aktiven Entwicklung, nicht nur des Herzzentrums, sondern aller feinstofflichen Energiezentren.
Wenn jemand beispielsweise einen pädagogischen Unsinn erzählt, so können die Worte erst einmal zur bewussten Erkenntnis gelangen. Sie müssen erfasst werden, im Wesensgehalt ausreichend zur Anschauung gelangen und schließlich mit der nötigen fachlichen Orientierung zur sinnvollen weiteren Diskussion freigestellt werden. Mit der kritischen Betrachtung und dem Ringen um eine angemessene und erweiterte Argumentation wird die andere Person nicht herabgesetzt, sie wird vielmehr sogar in die Möglichkeit der Entwicklung geführt. Wenn jedoch der Fall eintritt, dass jemand einen Unsinn erzählt und der Andere sich darüber ärgert und unmittelbar sofortige Werturteile auf die Person wirft, zerstört er die Entwicklungsmöglichkeit und er selbst gerät durch seine Übergriffigkeit aus jeglicher Mitte, er verliert den Bezug zur Herzenswärme.
Gleichzeitig nimmt ein Aggressor, der den anderen beleidigt und erniedrigt, die astrale Form, die er erzeugt, für sich selbst auf. Die Beschimpfung, der andere sei total abhängig, führt unmittelbar zur Einschnürung des Aggressors in seinem eigenen Leib und somit erschafft der Aggressor das Bild seiner eigenen Abhängigkeit. Aus diesem Grunde findet man bei all jenen, die am heftigsten andere herabmindern, die prototypisch ausgeprägten Eigenschaften ihrer eigenen Worte. Die Seele geht in die Form, die sie mit ihren Worten motiviert und erzeugt, hinein.



Eine Form der Dreigliederung ist für jegliche konstruktive Kritik wichtig. Eine kritische Betrachtung erfordert eine objektive Beziehung, erstens zum anderen Menschen, zweitens zu dem sachbezogenen Thema und drittens zu sich selbst. Spricht jemand dem anderen die spirituelle Entwicklung ab, sei dies aus Angst vor neuen Schritten oder sei dies aus eitlem Eingebildetsein, so schlägt er, bildhaft gesehen, wie mit einer stumpfen Schaufel auf den anderen ein. Geistig gesehen sind diese unsoliden Polemiken und Werturteile wie platte Schaufelschläge.
Kritik in einer konstruktiven Form, unter Anwendung einer Dreigliedrigkeit, die besagt, dass der andere nie in seiner Individualität verletzt werden darf, das Thema in der schönsten Form zur Entfaltung gelangen will und die eigene Bemühung sich um das Interesse eines größeren Ganzen annimmt, führt immer zu einer besseren Mittenempfindung des Herzens und auf längere Sicht zu einer Friedfertigkeit. Fühlt sich aber dennoch der andere in seinen Gefühlen gekränkt, und dies nur deshalb, weil seine bisherige Weltanschauungsthese oder seine geäußerten Worte in eine kritische Betrachtung gelangen, stellen sich weitere Fragen. Kritik jedoch zu unterlassen, nur weil der andere heftig und emotional reagiert, kann als Kriterium zur Arbeit im Umgang mit sich selbst und anderen keine zu große Bedeutung einnehmen. Die Unterlassung führt dann zu einer Reaktion im sogenannten Astralleib oder anders ausgedrückt in der Tiefe des Bewusstseins, sodass Spaltungen im Miteinander entstehen und spirituelle Ziele nicht mehr erreicht werden. Wenn eine Korrektur nicht aus persönlichen Gründen passiert, sondern aus sachlichen, und der andere dennoch emotional reagiert, so zeigt dies in den meisten Fällen den Irrtum an, in dem sich jemand bereits befindet. Fühlt sich jedoch jemand verletzt, weil der andere ihm jegliche Mündigkeit abspricht, so wird wohl in vielen Fällen eine emotionale Reaktion gerechtfertigt sein, denn es ist ein persönlicher Niederschlag. Das menschliche Miteinander ist in manchen Punkten sehr komplex und ineinander verwoben, sodass Persönliches und Sachliches unheimlich geschickt getarnt sind. Die Bemühung um Konstruktivität führt jedoch niemals die Menschen in Entzweiung, sondern sie setzt erste Bausteine der Verbindung und des menschlichen friedvollen Zusammenwirkens.
Es sind drei Glieder, die durch die bewusste Tätigkeit in die Entfaltung gelangen: Das Thema erhöht sich in der Wahrheit, die andere Individualität gewinnt ein Ehrgefühl durch die konstruktive Kritik und das eigene Selbst nimmt den Standpunkt der Herzmitte ein.
Anmerkungen
⇑1 | Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten, Rudolf Steiner Verlag 1982, S. 128 f. |
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⇑2 | Die Fähigkeit zur rechten Urteilsbildung wird unter den 10 Seelenübungen dem Planeten Saturn zugeordnet. Die Entwicklung einer tiefgründigen Urteilsfähigkeit wirkt stabilisierend und befreiend auf traumatisierte Personen und schützt vor falscher Emotionalität. |
⇑3 | Die indische Philosophie nimmt die Worte ahimsa und himsa, Gewaltfreiheit und Gewaltanwendung in besonderem Maße nicht nur für Handlungen, sondern des Weiteren für die Wahl und Anwendung von Worten. Sind Worte sehr vernichtend geprägt und mit der willentlichen Absicht zu schädigen gesprochen, so verletzen diese das Gebot ahimsa, der Gewaltfreiheit. |