Artikel von Heinz Grill:
Eine der wichtigsten gesundheitlichen Wirkungen der verschiedenen Yogaübungen besteht in der Anregung und Steigerung des ganzen Potentials der sogenannten Energie. Diese Energie bewirkt in der Regel eine allgemeine Regeneration und psychische wie auch physische Steigerung des Wohlbefindens.
Die Frage stellt sich jedoch bei näherer Betrachtung, ob der Übende mit seiner Art des Yogaübens eine regressive oder progressive Entwicklung fördert und ob er tatsächlich fähig wird, neue Dimensionen zu seinem bisherigen Leben hinzuzugewinnen.
Sehr häufig erstrebt der Übende auf dem Yogaweg eine Art unbewusste Regression, indem er sich beispielsweise auf seinen Körper, auf die Erhaltung seines Wohlbefindens und gewissermaßen auf ein Geschütztsein in seiner Psyche zurückzieht. Das allgemeine Sicherheitsdenken der Zeit, das mittlerweile derartig zwanghaft und unvorteilhaft geworden ist, redet dem Menschen ein, dass er bald ohne Überwachungskameras und Begleitung eines Notarztes nicht mehr auf die Straße gehen kann.
Yoga gewinnt innerhalb dieser materialistischen Vorstellungen häufig eine, rein die menschlichen Kräfte konservierende, Ausdrucksgebung. Viele Menschen haben Angst vor neuen Schritten und vor einem Denken in erweiterte Zielperspektiven und gehen deshalb mit der Hoffnung, einmal etwas Ruhe und Schutz bei sich selbst zu finden, in einen Yogakurs.
Entwickelt aber der Einzelne nicht seine Möglichkeiten, sowohl im Körperlichen als auch in seinem psychischen Potential, so kann er sich nur selbst in seinem Denken fixieren und Limitationen gegenüber seiner möglichen Entwicklung entwerfen. Eine wirkliche Regeneration und eine effektive Steigerung der psychischen und physischen Spannkraft kann durch diese Selbstlimitationen und regressiven Bewusstseinsprozesse nicht eintreten.
Die Bedeutung von „Regeneration“
Welche Bedeutung liegt tatsächlich in dem Wort „Regeneration“? Der Ursprung des Wortes liegt im Latein1)Lat. regeneratio = Neuentstehen. Heute wird der Begriff Regeneration im allgemeinen nur noch nach seiner biologischen Definition verwendet, im Sinne von Rückgewinnung verbrauchter Kräfte (Erholung) bzw. der Fähigkeit eines Organismus verloren gegangene Teile wieder zu ersetzen. (Def. Wikipedia) und bedeutet, dass eine Sache in die Gene wieder neu hineingebracht wird, dass ein Geburtsprozess über das Alte hinausgehend stattfindet, dass ein Entstehen, ein neues Prinzip, ein Wachsen oder eine Kraftumsetzung eintritt. Nur im technischen Bereich, beispielsweise auf Maschinen bezogen, kann ein alter Zustand hergestellt werden; im Menschen jedoch handelt es sich um regelrechte neue Geburtsprozesse, die im besten Sinne Entwicklungen mit Progressivität beschreiben.
Die Ausführung einer Yogaasana sollte immer mit jener Progressivität einer neu hinzukommenden Erfahrungs- und Entwicklungsfrage entstehen. Der Übende erweitert seine Bewusstheit, indem er auf der einen Seite sorgfältig den Körper beobachtet und auf der anderen Seite eine mögliche Idee auf bestmögliche Weise auf die bisherige physische und emotionale Kondition überträgt und zu einem Generieren oder – wenn man es anders ausdrückt – zu einem Wachstumsprozess des gesamten Erfahrungshorizontes beiträgt. Die regenerative Bedeutung von Yogaübungen liegt nicht nur in der gymnastischen Anwendung verschiedenster Bewegungstechniken, sondern in ganz besonderer Weise in der progressiven Entwicklung einer inhaltlich gehaltenen Idee, die zu einer schönen oder angemessenen Form in den Körper geführt wird. Der Übende erweitert über seine aktive Bewusstseinstätigkeit seine körperlichen Möglichkeiten und eröffnet gewissermaßen einen Geburtsprozess, der seine Integrität2)Lat. integritas = unbeschädigter, unverdorbener Zustand. Der Begriff bezeichnet eine weitgehende Übereinstimmung zwischen den eigenen Idealen, den eigenen Werten und der tatsächlichen Lebenspraxis. im Sinne von positiven Entwicklungsfragen fördert.
Die Bedeutung des Spagates
Diese sehr anspruchsvolle Stellung, die im Ballett, Tanz und sogar in den verschiedenen Kampfsportarten systematisch trainiert wird, kann ebenfalls innerhalb einer soliden Yogapraxis eine recht zentrale Bedeutung einnehmen. Obwohl die Übung schwierig ist, lässt sie sich in einer Folge mit vorbereitenden Übungen Schritt für Schritt einstudieren. Selbst wenn der Übende noch nicht zum vollkommenen Erfolg gelangt, gewinnt er eine Erlebensform, die ihn langsam zu einem tieferen Sinngehalt, die der Übung zugrunde liegt, führt.
Die Bedeutung des Spagates, hanumanasana, liegt in der eigendynamischen Bewegung der Beine selbst, die sich, ohne Druckbelastung, in die weiteste, dem Boden aufliegende, Schrittform entwickelt. Von Seiten des Yoga bildet das sogenannte muladhara cakra oder, wie es auch genannt wird, das Wurzelzentrum am untersten Ende der Wirbelsäule, den entscheidenden Ansatz, damit die Beine in eine durchfließende eigene Dynamik gebracht werden können.
Hanuman, der Name der Stellung, bezieht sich auf den im Westen so eigenartig anmutenden Affengott des Hinduismus, der im Kampfe mit seinen Beinen den Ozean überspannte und überspreizte. Aus dem Bild der Legende wird jedoch die Bedeutung der Übung von höchster Spannkraft und überdurchschnittlicher Leistung deutlich. Nicht langsam, dem Gewicht nachgebend, sinkt der Übende passiv zu Boden, bis die Beine sich ganz der Dehnung preis gegeben haben, sondern die Beine überspannen, dehnen sich aus und fließen in die weitesten Grenzpunkte hinaus, die ihnen durch die Bewegung möglich ist.
Vorbereitende Übungen zur Ausführung von hanumanasana
Es gibt einige Übungen, die den Spagat relativ gefahrlos vorbereiten. Diese gesamten vorbereitenden Übungen tragen das Merkmal, dass sie mit eigendynamischen Beinbewegungen, ohne von außen kommender Zug- oder Druckbelastung, in die Umsetzung gebracht werden.
Das Absenken eines Beines im Kopfstand Richtung Boden, bei gleichzeitigem dynamischen Strecken des nach oben gerichteten Beines, fördert die Bewegtheit im zweiten Energiezentrum, im sogenannten svadhisthana cakra. Ohne mit dem Gewicht auf die Beine zu drücken und ohne mit den Händen diese zusätzlich zu mobilisieren, muss der Übende die Dynamisierung der Beinbewegung rein konzentrisch leisten.3)Die Begriffe konzentrisch, exzentrisch und isometrisch beschreiben die Art der Muskelaktivität. Konzentrische Muskelarbeit bedeutet, dass sich der Muskel in der Anspannung verkürzt, dass Ansatz und Ursprung des Muskels sich annähern. Exzentrisch beschreibt, dass der Muskel unter Anspannung länger wird, Ansatz und Ursprung sich also entfernen. Bei der isometrischen Anspannung bleibt der Muskel in seiner Länge, Ansatz und Ursprung bleiben gleich weit entfernt. Distorsionen oder Rupturen sind bei diesen freien Bewegungsmomenten nicht möglich.4)Distorsion (lat. Verdrehung) bedeutet in der Medizin eine Verstauchung bzw. Verletzung eines Bandes oder einer Gelenkkapsel. Ruptur (lat. Zerreißung) bezeichnet den Riss eines Muskels, eines Bandes oder einer Sehne.
Schließlich kann der Übende in der Rückenlage ein Bein mit den Händen ergreifen und es systematisch weiter in die Dehnung über den Kopf hinaus führen – supta trikonasana. Die Zugkraft der Hände muss behutsam angesetzt werden, damit die Eigendynamik in beiden Beinen durch die Zusammenziehung im Becken, das heißt wieder im zweiten Zentrum, geleistet werden kann. Es ist gut, wenn sich der Übende vor einem zu starken Ziehen der Arme hütet. Die Distorsions- und Rupturgefahr von Bändern und Muskeln besteht in der Regel nur dann, wenn Fremdeinwirkungen von außen ohne zentrischen Ansatz die Muskulatur bewegen. Die starke Zugspannung, die mit den Händen auf die Beine gerichtet wird, kann als Fremdeinwirkung gelten. Indem man beide Seiten mehrmals übt, entsteht eine starke Sammlung im zweiten Zentrum und diese ermöglicht in weiterem Verlauf die weitere Ausdehnung der Beine.
Eine weitere Übung, die relativ wenig Gefahren der Verletzung in sich birgt, bildet der im Stehen gewählte Spagat, die sogenannte Beinstellung – utthita eka pada hastasana. Der Übende beginnt in stehender Position und ergreift einen Fuß an der Außenseite, führt diesen nach oben, bis er schließlich über die Horizontale immer weiter in die vertikale Linie tendiert. Die Bewegung selbst wird nun im untersten Zentrum, im muladhara cakra angesetzt. Der Arm gibt dem Bein eine Führung, während aus dem untersten Zentrum, das heißt aus dem untersten Beckenboden, dieses nach oben gerichtete Bein dynamisch hinaufgeschoben wird.5)Der Beckenboden spannt sich anatomisch gesehen zwischen dem Schambein und dem Kreuz-, Steißbein als 2-lagige Muskelschicht aus. Er bildet den unteren Abschluss des Rumpfes und gibt den Beckenorganen und in der weiteren Folge den Organen des Bauchraumes einen Halt. Der Mittelpunkt ist das Perineum. Punktuell erfolgt aus dem untersten Zentrum diese Kraftumsetzung. Der Oberkörper bleibt leicht und aufgerichtet. Der Atem fließt stets frei.
Die dem Spagat direkt vorausgehende Übung bildet schließlich anjaneyasana, der Halbmond. Wieder dehnt der Übende sich weit in die Beindynamik hinein und arbeitet vor allem mit aktivem Einsatz des nach hinten gerichteten Oberschenkels. Die Zentren in dieser Stellung bilden das muladhara cakra und das svadhisthana cakra. Der Oberkörper bleibt ständig leicht und der Atem fließt weiterhin ungezwungen, so leicht wie das Luftelement selbst.
Das Bild von hanumanasana
Häufig sind die tänzerischen Ballettbilder, in denen der Spagat zum Ausdruck kommt, weitaus ästhetischer als viele Demonstrationen des yogageprägten Spagates. Liegt es nur an der dynamischen Leichtigkeit, die der Tanz mehr verfügbar macht, als der manchmal etwas sehr statisch werdende Yoga? Es dürfte im maßgeblichen der frei gewählte Atem sein, der im Tanze den Körper ebenfalls freier erscheinen lässt und der schließlich eine ästhetische Expression in den Übungen zulässt. Indem das Bewusstsein bei Yogaübungen häufig mit dem Atem an den Körper zurückfixiert wird, erscheint dieser viel schwerer und körperlicher, als er im freien und beschwingten leichten Tanz seinen grazilen Ausdruck nimmt.
Für die ästhetische Entwicklung eines möglichst freien Bildes des Spagates ist immer ein leichter und freier Atem notwendig. Der Übende nützt keine pranayama-Technik um besser in die Dehnfähigkeit der Beine hineinzukommen, sondern lässt den Atem wie in einem großen Raum leicht und ungezwungen fließen. Durch diese Leichtigkeit des fließenden Atems entwickelt sich eine erstaunliche Wahrnehmungsfähigkeit und der Übende kann konzentrierter die Bewegung in einem Zentrum, in diesem Sinne des Spagates im muladhara cakra, ansetzen. Der frei werdende Atem erlaubt einen tieferen Zugang zu den aktiven Kräften, die in den cakren gesammelt sind.
Weit dehnen sich die Beine aus dem untersten Beckenboden wie in einem weitest gefassten spannkräftigen Schritt am Boden aus. Die Beine schieben sich aus einer Mitte auseinander. Der Oberkörper dehnt sich ebenfalls nach oben und entlastet somit das Körpergewicht. Der Beckenboden, der normalerweise unter dem Druck des gesamten Rumpfes und sogar eigenartigerweise – wenn man es empfindungsmässig betrachtet – des Kopfes leidet, befreit seine einschnürende Dichte und nun kann eine Kraft aus dem muladhara cakra in die Beine horizontal hinaus fließen. Solange das drückende Gewicht auf diesem Beckenboden lastet, können die Beine noch nicht ihre souveräne Eigendynamik in die Ausgestaltung des weitesten Schrittes leisten.6)Druckerhöhungen im Bauchraum wirken besonders belastend auf den Beckenboden. Der Kopf hat auch anatomisch gesehen wesentliche Verbindungen zum Beckenboden. Die Schädelbasis entspricht auf der Ebene des Kopfes dem Beckenboden auf der Ebene des Rumpfes. Über die Wirbelsäule und bis hinunter zum Steißbein ist eine direkte sowohl knöcherne, als auch fasziale Verbindung gegeben. Besonders Frauen leiden häufig unter einer Schwäche des Beckenbodens mit nachfolgenden Organsenkungsbeschwerden, den sogenannten Ptosen. Männer hingegen neigen bei Fehlspannung eher zu einem zu fest werden in diesem Bereich. Der Oberkörper enthebt sich förmlich in die Lüfte und gibt den untersten Gliedmaßen den Raum zur Bewegung.
Die Ausführung von hanumanasana
Nach ausreichender Vorbereitung und mehrfacher Ausführung von anjaneyasana streckt der Übende ein Bein nach vorne hinaus und das andere nach hinten. Er stützt sich solide mit den Händen vom Boden ab, damit das Gewicht des übrigen Körpers nicht auf den Beinen lastet. Langsam nähert sich der Übende dem Boden an. Nun hebt er einen Arm weit nach oben, entlastet den ganzen Oberkörper durch die Streckung in die Lüfte und befreit den untersten Beckenboden. Er dynamisiert sich bis hinauf in die Mitte des Rumpfes, sodass das Gewicht nun nicht mehr auf dem Becken und Beinen lasten kann. Während er diese aufwärts gerichtete Bewegung bei leichtem und freiem Atem vollzieht, beginnt er aus dem Becken die Beine dynamisch in die Länge zu schieben, bis diese solide den Boden erreichen. Die Spannungsverteilung beobachtend entwickelt sich die Bewegung bis zu der größtmöglichen Aufbauspannung.
Wenn der Übende den Boden erreicht, behält er dennoch die Dynamik im Aufwärtsstreben und auch die Dynamik im Hinausschieben der Beine bei. Keine Phase des Übens verliert sich in Unaufmerksamkeit, Routine oder passivem Sitzen. Solange der ganze Körper in dieser, von dem muladhara cakra beginnenden, ausgedehnten Haltung aktiv arbeitet, sind die Bänder und Muskeln sinnvoll integriert und der Bewegungsapparat schützt sich vor Verletzungen.
Der Sinn dieses bewegungsdynamischen Ansatzes liegt keinesfalls im sogenannten Stretching7)stretching von to stretch, heißt dehnen oder strecken. Einzelne Muskeln oder Muskelgruppen werden über einen Zeitraum von 20-30 Sekunden statisch, d.h. ohne Bewegung, gedehnt. Ansatz und Ursprung der Muskeln werden durch die Einnahme einer bestimmten Position möglichst weit auseinander gebracht. Der Muskel gibt durch den entstanden Zug dann mit der Zeit nach. Es ist eine passive Dehnung., einem Ausdehnen, das man passiv an den Beinen vornimmt, sondern in einem aktiven Bewegtsein, das formgebend und stärkend auf die Eigenmuskulatur der Beine selbst wirkt.
Die beschließende Phase der Übung sollte ebenfalls unter größter Aufmerksamkeit und Bewahrung der Leichtigkeit im Oberkörper erfolgen. Langsam geht der Übende auf ein Aufstützen der Hände zurück und zieht die Beine aus der Übung wieder in die normale Lage herbei.
Variationen zum Spagat
Eine der sehr schönen ästhetischen Variationen zum Spagat bildet die rückwärtsbeugende Dynamik zur Halbmondform. Indem der Übende in weitester Ausdehnung den Körper vom muladhara cakra anhebt und sich im manipura cakra, das heißt in der Mitte des Rückens, in die Brustwirbelsäule durchwölbt, entsteht eine elegante runde Form, die ein sehr schönes, ästhetisches, künstlerisches Bewusstsein ausdrückt. In dieser Stellung entwickelt sich das muladhara cakra zu einer höchstmöglichen Dynamik, die sich darin ausdrückt, dass es die Beine noch weiter zum Boden eigenaktiv schiebt. Der Mittelpunkt der Stellung besteht genau im untersten Beckenboden.
Eine andere Variation bildet die Taube im Spagat. Weit beugt sich der Übende mit der Brustwirbelsäule nach rückwärts und behält die Hände balancierend am Boden. Der Oberkörper enthebt sich förmlich und der Atem bleibt frei. Nun winkelt er den Unterschenkel des hinteren Beines hoch und führt die Ferse direkt an die nach hinten gehaltene Stirn.
Eine dritte Variation entwickelt sich durch das Vorwärtsbeugen im Spagat. Noch einmal macht sich der Übende leicht, führt die Arme ganz nach vorne und senkt sich, ohne Druck auf die Beine auszuüben, systematisch nach unten ab. Er gleitet in dieser Bewegung immer wieder in die Länge, bis er schließlich den vorderen Fuß mit beiden Händen umgreifen kann. Behutsam und mit größter Aufmerksamkeit sollte diese Bewegung stattfinden, damit Druckbelastungen auf den Gesäßmuskel oder auf den vierköpfigen Oberschenkelmuskel weitgehend vermieden werden.
Man übe beim Spagat am besten immer beide Seiten, nach den Maßen, in denen es möglich ist. In der Regel werden Leistungsunterschiede in der Beweglichkeit wahrnehmbar sein.
Die regenerierende Wirkung des Spagates
In der Regel spricht man von Stretching und übt häufig den Spagat, indem man die verschiedenen Seiten der Beine dehnfähig machen möchte. Gemäß dieser Anleitung bildet das Stretching eine vollkommen untergeordnete Bedeutung, denn es wird mithilfe der Entwicklung der Eigendynamik (sowohl in konzentrischer als auch exzentrischer Muskelaktivität) der Beine aus dem untersten Energiezentrum eine sehr große Kraft freigesetzt, die in die Beine fließt, diese spannkräftig und dehnfähig formt und es wird des weiteren auch eine Durchgestaltung in den ganzen Oberkörper gefördert. Der Übende sammelt sich mit seiner Aufmerksamkeit am meisten im muladhara cakra. Er zieht den Beckenboden wie punktuell zusammen, das ist eine Erfahrung, die schließlich unmittelbar die nächste Erfahrung des spannkräftigen und eigendynamischen Ausgleitens der Beine ermöglicht. Damit aber dieser Zugang zu diesem untersten Energiezentrum mit der Konzentration gefunden werden kann, muss der Oberkörper vollkommen leicht werden und der Atem benötigt einen freien, ungezwungenen Raum. Die Freiheit des Oberkörpers ermöglicht schließlich die Dynamik nach unten.
Im muladhara cakra befindet sich ein hohes Potential an Lebensätherkraft, das ist jener Äther, der am tiefsten im Körper verwurzelt ist und eine größtmögliche regenerierende Fähigkeit in sich birgt. Indem sich der Übende von dem drückenden Gewicht des Oberkörpers in der Übung befreit, bzw. indem er den Oberkörper weit in die vertikale Linie führt und somit den untersten Beckenbereich befreit, kann das Potential des muladhara cakra in die Beine aktiviert werden.
Der Übende empfindet das muladhara cakra als körperliche Mitte, von der die sogenannten Prana-Kräfte oder Lebensätherkräfte in drei Richtungen fließen und sich schließlich sogar wieder in ihr Zentrum, wie in einen zusammenziehenden Punkt, sammeln. Obwohl der Körper konzentriert und aufmerksam beobachtet wird, fixiert sich der Übende nicht an seine Muskulatur, sondern er durchströmt gewissermaßen die Muskulatur mit den Kräften des Äthers, indem er sie in die leichte und freie Bewegung hineinschiebt. Aus der Mitte schieben sich die Beine in die größtmögliche Schrittlage und gleichzeitig erhebt sich der Oberkörper wie ein schwereloser luftiger Ballon nach oben.
Kraft und Gelöstheit, Durchströmung und Freilassung bilden den nahezu souveränen Ausdruck von hanumanasana. Ätherkräfte können am besten ihre regenerierende Wirkung entfalten, wenn eine Aktivität im zentrifugalen Durchströmtsein der Gliedmaßen stattfindet und diese Gliedmaßen dabei vollkommen frei von Fremdwirkungen in die Bewegung ausgleiten. Die Regeneration betrifft nicht nur das Gewebe der Beine, die Muskeln des Beckenbodens und des unteren Rückens, sondern sie betrifft vor allem den gesamten Lymphfluss und entstaut auf vorzügliche Weise den gesamten Körper.
In all jenen körperlichen Zonen, in denen Wasser- und Lymphanstauungen eintreten, können die Ätherkräfte nicht mehr ausreichend fließen und eine Durchgestaltung des Gewebes wird mit der Zeit unmöglich. Durch die zentrifugale starke Dynamik, die das muladhara cakra besitzt und die nun beim Spagat durch eine bewusste und koordinierte Tätigkeit in den Einsatz kommt, entwickelt sich der starke Fluss des prana und organisiert schließlich die aktiven Stoffwechselprozesse, sodass Stauungen abgebaut werden und gesunde Formkräfte bei gleichzeitigen Durchströmungen im Flüssigkeitsorganismus eintreten.
Zuletzt wirkt die zentrifugale starke Dynamik des Lebensäther oder prana-Flusses aus dem muladhara cakra außerordentlich entlastend auf das Nervensystem. Dieses Nervensystem trägt die Wahrnehmungsprozesse und hält das Bewusstsein in einer gesunden Wachheit. Die vielen Erschöpfungsprozesse, die heute im allgemeinen das Nervensystem belasten und die psychische Spannkraft des Menschen ermüden, finden einen ausgleichenden Gegenpol im aktiven Kräfteströmen des muladhara cakra. Im Allgemeinen ist es bekannt, dass Sport und sportliche Tätigkeit den Körper beanspruchen und einen gewissen Ausgleich zum überlasteten und überladenen Intellekt geben. Mehr noch als im Sport wird durch das Aktivieren des Kräftepotentials im muladhara cakra eine sehr reine Kraftumsetzung geschult, die dem Intellektualismus gewissermaßen polar entgegenwirkt.
Kraft und Wahrnehmung bilden Gegensätze, die sich jedoch in Wechselwirkungen ergänzen müssen. Jede Wahrnehmung kostet den Menschen relativ viel Energie und alles Denken muss im Inneren des Stoffwechsels Zuckerprozesse beanspruchen und sogar Protein aktivieren. Indem der Übende in höchster Dynamik durch die Spagatübung eine Kraft umsetzt, zentriert er die Stoffwechselfunktionen in den Körper und das ist eine sinnvolle körperliche und hohe Aktivität. Sie entlastet in der Folge die Wahrnehmungs- und Denkprozesse.
Durch den Spagat wird eine Kraft im muladhara cakra zentriert geschult. Es ist dies die Lebensätherkraft oder das am tiefsten verwurzelte Energiepotential, das sogenannte tiefe prana des Menschen. Gleichzeitig erfordert diese Übung Übersicht, Bewusstheit und solide Vorstellungsarbeit, damit Verletzungen durch unphysiologisches oder unachtsames Üben verhindert werden. Indem jemand auf diese Weise den Spagat erübt und sich mit der Idee der verschiedenen Spannungsbezüge auseinandersetzt, entwickelt er neue Erfahrungen, die ebenfalls ein regeneratives Potential in seiner Persönlichkeit erwecken.
Eine vergleichende Betrachtung von Heinz Grill zum Spagat finden Sie auch unter Yogawiki.
Anmerkungen
⇑1 | Lat. regeneratio = Neuentstehen. Heute wird der Begriff Regeneration im allgemeinen nur noch nach seiner biologischen Definition verwendet, im Sinne von Rückgewinnung verbrauchter Kräfte (Erholung) bzw. der Fähigkeit eines Organismus verloren gegangene Teile wieder zu ersetzen. (Def. Wikipedia |
---|---|
⇑2 | Lat. integritas = unbeschädigter, unverdorbener Zustand. Der Begriff bezeichnet eine weitgehende Übereinstimmung zwischen den eigenen Idealen, den eigenen Werten und der tatsächlichen Lebenspraxis. |
⇑3 | Die Begriffe konzentrisch, exzentrisch und isometrisch beschreiben die Art der Muskelaktivität. Konzentrische Muskelarbeit bedeutet, dass sich der Muskel in der Anspannung verkürzt, dass Ansatz und Ursprung des Muskels sich annähern. Exzentrisch beschreibt, dass der Muskel unter Anspannung länger wird, Ansatz und Ursprung sich also entfernen. |
⇑4 | Distorsion (lat. Verdrehung) bedeutet in der Medizin eine Verstauchung bzw. Verletzung eines Bandes oder einer Gelenkkapsel. Ruptur (lat. Zerreißung) bezeichnet den Riss eines Muskels, eines Bandes oder einer Sehne. |
⇑5 | Der Beckenboden spannt sich anatomisch gesehen zwischen dem Schambein und dem Kreuz-, Steißbein als 2-lagige Muskelschicht aus. Er bildet den unteren Abschluss des Rumpfes und gibt den Beckenorganen und in der weiteren Folge den Organen des Bauchraumes einen Halt. Der Mittelpunkt ist das Perineum. |
⇑6 | Druckerhöhungen im Bauchraum wirken besonders belastend auf den Beckenboden. Der Kopf hat auch anatomisch gesehen wesentliche Verbindungen zum Beckenboden. Die Schädelbasis entspricht auf der Ebene des Kopfes dem Beckenboden auf der Ebene des Rumpfes. Über die Wirbelsäule und bis hinunter zum Steißbein ist eine direkte sowohl knöcherne, als auch fasziale Verbindung gegeben. Besonders Frauen leiden häufig unter einer Schwäche des Beckenbodens mit nachfolgenden Organsenkungsbeschwerden, den sogenannten Ptosen. Männer hingegen neigen bei Fehlspannung eher zu einem zu fest werden in diesem Bereich. |
⇑7 | stretching von to stretch, heißt dehnen oder strecken. Einzelne Muskeln oder Muskelgruppen werden über einen Zeitraum von 20-30 Sekunden statisch, d.h. ohne Bewegung, gedehnt. Ansatz und Ursprung der Muskeln werden durch die Einnahme einer bestimmten Position möglichst weit auseinander gebracht. Der Muskel gibt durch den entstanden Zug dann mit der Zeit nach. Es ist eine passive Dehnung. |
Der Spagat kann auch genannt werden, wenn es darum geht, zwei scheinbar unvereinbare Pole in Verbindung zu bringen. Die Mitte, die sich immer wieder von Altem loslöst, sich befreit und mit neuen Gedanken die Brücke schafft, bringt dieses Kunststück zustande. Wie oft hat man das im Alltag, dass die eigenen Ideale und Ziele mit den gegebenen Umständen erst einmal kollidieren, man aber doch in den individuell möglichen Spagat geht und die Verbindung schafft. Welch schönes Bild ist diese freie Mitte, aus der sich neue Kräfte generieren.