Artikel von Heinz Grill:
Yogaübungen werden heute mehr im Sinne ihrer physischen Bedeutung für den Körper interpretiert. Ist es nicht interessant die Yogaübung von ihrer möglichen kosmischen Dimension und Erfahrung zu betrachten?
Die Tänzerposition, die sehr anspruchsvoll erscheint und eine hohe Konzentration an das Aufrichtevermögen des Menschen stellt, ist dem göttlichen Aspekt, den die indische Philosophie mit Shiva benennt, gewidmet. Ähnlich wie die christliche Trinitätslehre, erklärt der Hinduismus die göttliche Welt mit drei unterschiedlichen Gottheiten. Diese sind Narayanaya, der Beschützer oder Erhalter, der Gott Brahma als Schöpfer und schließlich Shiva, als den Zerstörer, Asket und Glückbringende. Shiva gebietet des weiteren die große Kraft der Verwandlung, der Transformation und wird als Herr des Yoga bezeichnet.
Soweit es möglich ist, eine Gottheit einem sogenannten Energiezentrum, einem cakra zuzuordnen, betrifft Shiva in vielen Aspekten das oberste Kronen-cakra, das sogenannte sahasrara-cakra. Dieses erscheint am Scheitelpunkt des Hauptes und repräsentiert die reine Transzendenz. Die Erfahrung, die diesem Zentrum angemessen ist, kann nicht mit irdischen Gefühlen oder äußeren Sinneswahrnehmungen belegt werden. Derjenige, der einen Moment des Fühlens einer Transzendenz, einer ungreifbaren und doch bestehenden Wirklichkeit jenseits der gegenständlichen Erscheinung erlebt, bemerkt eine außerordentliche Freiheit und unmittelbare Gegenwärtigkeit. Er erlebt ein starkes kosmisches Empfinden oder – anders ausgedrückt – ein sogenanntes Sein im Sinne einer Erfahrung des real bestehenden Jenseits. Aber dieses Sein ist nicht, wie man es sich häufig emotional vorstellt, ein Aufgelöstsein, ein schweigendes Nichts oder ein träumendes Glücklichsein, es ist vielmehr ein äußerst intensives Zentriertsein in einer gezielten aktiven Bewusstheit.
Die Position des Tänzer, wenn sie sehr solide bis zuletzt ausgeführt wird, vermittelt Andeutungen über diese Erfahrung im siebten Zentrum. Der Übende fühlt sich in höchster Konzentration bei gleichzeitigem Überschreiten physischer Grenzen und einer großen Freiheit gegenüber dem Körper.
Zur Ausführung
Mentale Vorstellungen bewirken eine Einstimmung des Kraftpotentials
Die erste Vorbereitung zu dieser hochanspruchsvollen Stellung geschieht über die Bildung von geeigneten Vorstellungen. Diese beobachtende, studierende und gedankliche Aktivleistung, die der Praxis wegbereitend vorangeht, führt zu einer Einstimmung und Aktivierung des sogenannten Ätherleibes. Alle Vorstellungen, die nach logischen und bildhaften Abläufen gedacht werden, erwecken im Inneren eine Bewegung und Bewegtheit. Der Ätherleib, der ein feinstoffliches Fließen von Lebenskräften bewegt, nimmt die Vorstellungskräfte unmittelbar auf und überträgt diese auf die physiologische Kondition des Leibes. Für die Ausführung einer schwierigen Stellung im Yoga ist es deshalb fast unerlässlich, diese in exakten und richtigen Vorstellungen heranzubilden. Der Trainingsaufwand auf physischer Ebene wird dadurch geringer und die Stellung entwickelt sich auf lichtere und ästhetische Weise.
Die erste Vorstellung widmet sich dem Aufrichtevermögen. Das nach oben geführte Bein steigt mit Dynamik auf der Rückseite des Körpers nach oben und gewinnt eine beachtliche Höhe. Der Fuß sollte nicht unterhalb des Nackens stehen bleiben. Je weiter der Fuß nach oben geführt wird, desto leichter lässt sich die weitere Stellung in das Rückwärtsbeugen ausformen.
Eine zweite Vorstellung betrifft die Wirbelsäule. Indem das Bein nach rückwärts hochgeführt wird, muss die Wirbelsäule im aktiven Einsatz arbeiten. Aus der Mitte über die Lende entwickelt sich ein dynamischer Ansatz, der das Bein in die gewünschte Höhe schiebt. Nachdem diese Bewegung beinwärts aus der Wirbelsäule aktiviert ist, erfolgt das Aufrichten des Brustkorbes. Die beiden Bewegungen sollten von allem Anfang in eine exakte Vorstellung gelangen, denn sie müssen innerhalb der Spannung, die die Tänzerposition einfordert, sehr variabel koordiniert werden.
Eine dritte Vorstellung betrifft das Rückwärtsbeugen. Der Körper bleibt immer im Lot. Es lässt sich eine Linie von dem Mittelfuß bis hinauf zum Scheitel ziehen, die das Lot auf exakte Weise markiert. Das Zurückneigen des Kopfes in der Endphase, damit der Scheitelpunkt die Fußsohle berührt, bedarf einer sorgfältigen Abstimmung. Sobald der Scheitel das Lot nach hinten überschreitet, kann die Balance nicht mehr gehalten werden.
Der Fehler, der bei der Tänzerposition nahezu wie obligatorisch auftritt, ist jener, dass sich der Übende zu weit nach hinten beugt, die Wirbelsäule im Lendenbereich einseitig rundet und aus dem Lot herausfällt. Er möchte mit dem Kopf den Fuß erreichen und kippt förmlich zurück. Die Aufbauspannung aus der Gesamtwirbelsäule und Beindynamik können nicht kontinuierlich durchgehalten werden.
Eine vierte Vorstellung erscheint hilfreich, indem der Übende die Bewegung, die er mit dem Bein vollbringt, mit einer lebendigen Armgestikulation ausführt. Das Bein wird von unten nach oben hochgeführt. Der Arm kann diese Bewegung sehr leicht und ohne Spannung ausführen. Dies senkrechte Stellung der Hand nach oben symbolisiert das vollständige Aufgerichtetsein.
Diese Vorstellungen können bis in eine mentale bildhafte Komposition geführt werden, so dass der Ätherleib sich langsam an die hohe Dynamik und das Aufrichtevermögen, das in der Tänzerposition notwendig ist, einstimmt.
Mithilfe eines spezifischen, etwas unbequemen Handgriffes wird mit der rechten Hand der rechte Fuß von der Außenseite gegriffen und systematisch in der Bewegung nach oben geführt. Der Daumen hält die Mittelfußknochen, die Finger umgreifen die Fußsohle. Mit diesem Handgriff, der über die Außenkante des Fußes erfolgt, kann sich die Bewegung ab einer bestimmten Höhe umstülpen.
Die physische Ausführung
Nachdem der Fuß auf eine erste gewünschte Höhe angekommen ist, beginnt der Übende noch einmal sorgfältig die Wirbelsäule zu koordinieren. Sowohl eine Bewegung aufwärts mit dem Brustkorb als auch eine Bewegung abwärts zum Bein wechseln sich in dynamischen und solide wahrgenommenen aktiven Einsatz. Das Bein sollte nun möglichst hoch hinauf kommen.
Sobald der Fuß die Kopfhöhe erreicht hat, kann der zweite Arm in geschmeidiger und weiter Bewegung nach rückwärts geführt werden, um den hochgeführten Fuß zu ergreifen. Nachdem dieser gut erfasst wird, koordinieren sich die Hände bequem an den Außenseiten des Fußes. Noch einmal bemüht sich der Übende die Wirbelsäule zu aktivieren und das Bein in die höchstmögliche Position zu schieben.
Schließlich erfolgt noch einmal eine Bewegung aus der Brustwirbelsäule und es kann sich der Nacken zurückneigen und der Kopf berührt mit dem Scheitel die Fußsohle. Diese Stellung kann für 10 und mehr Sekunden in sorgfältiger Behutsamkeit und gut koordinierter Spannkraft gehalten werden. Beide Seiten sind wechselweise zu üben.
Die Wirkung der Stellung
Es wäre der Stellung nicht sinngemäß, wenn die heilsamen Wirkungen dieser sehr fortgeschrittenen Position lediglich auf der physischen Ebene ausgedrückt werden würden. Mit Sicherheit müssen die intertransversalen, interspinalen Rückenstrecker intensiv durchblutet, belebt und zum Einsatz kommen. Auch die sakrospinalen Muskelgruppen bedürfen eines ungewöhnlichen und deutlichen Bewegungsmomentes.1) Die intertransversalen Rückenstrecker sind Muskeln, die von einem Querfortsatz zu einem Querfortsatz eines weiter kopfwärts liegenden Wirbels ziehen. Sie bewirken eine Neigung und Streckung der Wirbelsäule. Die interspinalen Rückenstrecker sind diejenigen Muskeln, die von den Dornfortsätzen zu Querfortsätzen der weiter kopfwärts liegenden Wirbel ziehen. Sie bewirken eine Streckung der Halswirbelsäule. Die sakrospinalen Muskelgruppen entspringen am Becken, führen zu Querfortsätzen der Wirbelsäule und zu den Rippen. Auch sie bewirken eine Neigung und Streckung der Wirbelsäule. Das Hüftgelenk kann, wenn man es auf diese Weise bewegt, größten Nutzen gewinnen, da der Gelenkskopf in die Gelenkspfanne auf optimale Weise zentriert wird. Es wäre jedoch übertrieben und nicht mehr sachgemäß, wenn man die Tänzerposition jemandem empfiehlt, der an beginnender Hüftgelenksarthrose leidet.
Das Aufrichten in ein balancierendes Lot, unter behutsamer Wahrung des Gleichgewichtes und sorgfältiger Sinnesabstimmung der Augen im Raum, führt zu einer gesteigerten Konzentration, die mental unerlässlich ist und sich in exakter Weise mit dem Körper abstimmt. Eine hohe Aufrichtekraft, die weniger gymnastisch, sondern mit leichtem Streben nach oben erfolgt, ist für diese Position unerlässlich. Jede Phase bleibt dynamisch und doch bewahren die Sinne Ruhe und Sammlung.
Ein Gefühl der Körperfreiheit lässt sich in der Endstellung wahrnehmen. Dieses ist sehr stark, jedoch sensitiv und erfüllend. Der Übende hält die Spannung im Körper und dennoch bleibt er durch das gehaltene Gleichgewicht frei von diesem. Die Stellung wirkt wie schwebend, einerseits solide mit dem Boden verankert, andererseits angehoben, mit einem Gefühl, wie wenn der Übende über die irdische Sphäre hinausgehen würde. Es ist weder ein träumerisches Empfinden, noch ein vitales Erleben der Muskeln und des Rückens. Der Übende befindet sich für Momente in einer kosmischen Atmosphäre. Er erlebt die Unmittelbarkeit des Freiseins bei gleichzeitiger Übung mit dem Körper. Das Bewusstsein enthebt sich aus den Fesseln des Leibes.2)Körperfreiheit bezeichnet nicht eine Flucht aus dem Körper, sondern eine größere Freiheit und Losgelöstheit von den Einschränkungen der körperlichen Bedingungen. Das Bewusstsein gewinnt hierdurch sogar eine intensivere Wahrnehmung und Beziehung zum Körper.
Wenn man von diesem Empfinden ausgeht, das eine Art konkretes, kosmisches Erleben darstellt, so sollte der Übende dieses nicht für sich egoistisch nützen. Der Yoga wäre sehr einseitig, wenn er mit seinen möglichen Energien und Erfahrungen in eine Traumwelt des Kosmos flüchten würde. Er wäre tatsächlich bestens zur Weltenflucht geeignet. Indem jedoch der Übende dieses Gefühl der Körperfreiheit und des kosmischen Erlebens für sich gewinnt und es im weiteren Verlauf reflektiert, kann er es sich für das soziale Leben nutzbar machen.
Wie viele Personen sprechen heute von Erleuchtungserlebnissen und verwechseln diese mit emotionalen Gefühlen oder mit halbbewussten träumenden Zuständen. Im Tänzer, im grazilen Aufgerichtetsein, kann der Übende nicht träumen und er kann für keinen Moment das Bewusstsein aus der Konzentration entlassen. Die Kontinuität in der Entwicklung der Übung führt ihn in eine Art Wirklichkeit, die Freiheit bei gleichzeitiger Wachheit und Bewusstheit vergegenwärtigt. Für die spirituelle Entwicklung müsste der einzelne Mensch von sich selbst frei werden und das Denken vom Körper unabhängig bewegen lernen. Er könnte sehr viel positive Möglichkeiten zu seinen Mitmenschen entfalten.3)Dieses Freiwerden von sich selbst bedeutet nicht, die eigene Person zu negieren oder abzuspalten, sondern es bezeichnet vielmehr die Kraft des Bewusstseins, den anderen Menschen oder ein Objekt in seiner Wirklichkeit intensiver wahrzunehmen. Diese Kraft der Seele, die man auch als Empathie bezeichnen könnte, kann geschult und entwickelt werden. Das Kennenlernen einer kosmischen Dimension, wie sie im Tänzer zum Ausdruck gelangt, führt neue Möglichkeiten herbei. Der Übende lernt sich mit intensiverer Bewusstheit dem Leben, den Mitmenschen und den alltäglichen Verrichtungen hinzuwenden.
Die große Führungskraft, die die Tänzerposition erfordert, könnte sich im weiteren Verlauf in den verschiedensten Handlungen des Daseins ausdrücken. Die wohl beste Führung ist diejenige, die durch die entwickelte Konzentration frei von den physischen Schweregefühlen erfolgt.
Das siebte Zentrum bedeutet Transzendenz und dieses Wort besagt so viel wie ein Übersteigen des Körperlichen, Gegenständlichen, des Diesseitigen und Bekannten. Der Scheitel, der Lokalisationsort des siebten Zentrums, des sahasrara-cakra, berührt die Fußsohle und dies in einer gewagten, sensitiven Höhenlage. Unter diesem Scheitelpunkt zeigt sich ein harmonischer Kreis, der ebenfalls angehoben ist. Nur das Standbein bildet eine stabile Grundlage für das irdische Verankertsein. Das Erleben dieser Position durch bildhafte Betrachtung schenkt bereits ein erstes Empfinden für die hohe Dimension dieser Stellung.
Der Tänzer, nataraja-asana erfordert ein exaktes Aufrichtevermögen, das vom ersten Energiezentrum, muladhara-cakra, beginnend, bis nach oben koordiniert wird. Dieses Aufrichtevermögen geschieht einerseits physisch, jedoch andererseits schenkt es bereits im Erleben der Stellung das wundersame Prädikat eines inneren Aufgerichtetseins zum Kosmos, zum Gedanken und zum Geist. Jede Entwicklung des Menschen kann ohne ein inneres Aufrichten des gesamten schöpferischen Potenzials, das in der Seele ruht und im weiteren Verlauf herangebildet werden kann, nicht erfolgen. Ein inneres Aufrichten schenkt dem Menschen erst die Möglichkeit zu einer Weltenperspektive.
Anmerkungen
⇑1 | Die intertransversalen Rückenstrecker sind Muskeln, die von einem Querfortsatz zu einem Querfortsatz eines weiter kopfwärts liegenden Wirbels ziehen. Sie bewirken eine Neigung und Streckung der Wirbelsäule. Die interspinalen Rückenstrecker sind diejenigen Muskeln, die von den Dornfortsätzen zu Querfortsätzen der weiter kopfwärts liegenden Wirbel ziehen. Sie bewirken eine Streckung der Halswirbelsäule. Die sakrospinalen Muskelgruppen entspringen am Becken, führen zu Querfortsätzen der Wirbelsäule und zu den Rippen. Auch sie bewirken eine Neigung und Streckung der Wirbelsäule. |
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⇑2 | Körperfreiheit bezeichnet nicht eine Flucht aus dem Körper, sondern eine größere Freiheit und Losgelöstheit von den Einschränkungen der körperlichen Bedingungen. Das Bewusstsein gewinnt hierdurch sogar eine intensivere Wahrnehmung und Beziehung zum Körper. |
⇑3 | Dieses Freiwerden von sich selbst bedeutet nicht, die eigene Person zu negieren oder abzuspalten, sondern es bezeichnet vielmehr die Kraft des Bewusstseins, den anderen Menschen oder ein Objekt in seiner Wirklichkeit intensiver wahrzunehmen. Diese Kraft der Seele, die man auch als Empathie bezeichnen könnte, kann geschult und entwickelt werden. |