Von Heinz Grill:
Vor wenigen Tagen waren wir in einer Seilschaft mit den bekannten Kletterern Ivo Rabanser und Stefan Comploi. Als ich an einer ausgesetzten Wandpassage den beiden sehr kompetenten und leistungsstarken Bergführern eröffnete, dass vor meiner Person durch die Süddeutsche Zeitung gewarnt wird, sahen mich die zwei nur mit etwas überraschten Augen an. Ivo, der in geschickter Wortwahl mit humorvollen Provokationen nicht sparsam auftritt, meinte, ich müsse nur in das Bierzelt gehen und die Krüge stemmen, herumschreien und Gruppe machen. Und wörtlich fügte er hinzu: „Dann werden sie sagen, dass Du doch nicht so schlimm bist.“
Stefan Comploi, der von seiner Natur her ruhiger auftrat, musterte mich sodann von oben nach unten und ermahnte korrekterweise die gesamte Seilschaft, sie solle sich doch auf das Sichern und Klettern konzentrieren und keine hochphilosophischen Diskussionen führen. Ivos Temperament aber war wie entzündet und selbst an der glatten Platte, an der wenige Sicherungen anzubringen waren, ahmte er in geschickter Karikatur den bayrischen Dialekt nach. Die Worte, die er herunterposaunte, waren derartig gekonnt, dass sie für mich als ursprünglich bayrischen Landmann schon kaum mehr verständlich waren. Es erübrigt sich aus Gründen der Pietät den Inhalt genauer wiederzugeben. Jedenfalls, als er die Platte überwunden hatte und zu seiner eleganten italienischen Sprache zurückkehrte, sang er förmlich noch eine Art Hymne: „ Gli uomini straordinari sono per me i più simpatici.“ (Die Sonderlinge sind mir in besonderem Maße sympathisch) War das nicht vielleicht doch eine heimliche Anerkennung?
In den folgenden Passagen, die infolge der fallenden Schwierigkeiten weniger aufregend waren, entwickelten wir ein weiteres Gespräch über die Fähigkeit der Projektion. Ivo bohrte am Stand eine Sanduhr zur zusätzlichen Sicherung, das ist eine Aktivität, die in der Alpingeschichte durchaus verpönt ist und normalerweise nur von jenen gemacht wird, die niemals einen edlen klassischen Stil des Kletterns kennengelernt haben. „Kritik ist mir egal und außerdem, wenn sie kommen sollte, werde ich behaupten, du seist der Urheber des Bohrunternehmens gewesen“, entgegnete er mir dreist. Dann sprachen wir über Projektionen, Schuld und Unschuld, Sitte und Unsitte. Ivo ahmte im Laufe des Aufstieges in bestgekonnter Aussprache die Führerstimme nach, so als ob man in einer Live-Veranstaltung des Münchner Hofbräuhauses sitzen würde. Ich war erstaunt, wie aus einer Klettertour eine höchstgrazile Mischung aus Philosophie, Psychologie, Geschichte und einer spontan gewählten Satire entstehen konnte.
Was ist eine Projektion? Ich musste mein ganzes pädagogisches Vermögen aufbieten, den beiden Bergsteigern den Unterschied der Begrifflichkeiten von Projektion und rechter Anschauungsbildung einfach und verständlich nahezubringen. Für sie, die Kameradschaftlichkeit und eine ordentliche Haltung schätzen, war es selbstverständlich, dass eine Zeitung nur ihr eigenes Spiegelbild und Innenleben auf Dritte projiziert und deshalb ein bestes Selbstzeugnis abgibt. „Ich lebe aber nunmehr von Lichtnahrung und versammle Gruppen um mich“, entgegnete ich, damit ich weiter die Diskussion zur straffen Führung brachte. Ivo öffnete am Standplatz seine Rucksackdeckeltasche, nahm eine Packung weiße Schokolade heraus und da ich – nicht aus Lichtgründen sondern aus Zeitgründen – noch nicht gefrühstückt hatte, griff ich gerne nach den mit Nüssen gespickten Rippen. Ivo entgegnete: „Und ich werde auf meiner Seite veröffentlichen, dass du in der Wand mit uns Gruppe gemacht hast und wir als Guru von dir gezwungen wurden, in dieses schaurige Felsengelände mit Risikobehaftung einzusteigen.“ Handelte es sich vielleicht um eine gekonnte Projektion der beiden Bergführer, die, wenn ich recht erinnerte, mich schon heute morgen infolge ihres Eifers aus dem Bett gejagt haben? Die Diskussion war jedenfalls nicht mehr aufzuhalten. „Hättest du nie die schönen Klettertouren eröffnet, hätten wir niemals Ehestreitereien! Du bist Schuld an unserer Leidenschaft“.
Und es gingen die Emotionen weiter: „Wir wollten mit dem Klettern nach sehnlichem Anliegen unseres bereits fortgeschrittenen Alters ruhiger werden und du kamst vom Norden zu uns und brachtest nicht nur schöne, verführerische Routen, sondern auch eine neue Philosophie des Bergsteigens. Trunken wurden wir von dir gemacht, das Gehirn wurde uns gewaschen und wir befürchten mittlerweile, dass sich dein Stil für die ganzen Dolomiten durchsetzen wird.“
Wenn auch die Diskussion einige verwirrende und widersprüchliche Argumente in sich führte, so war doch in der Summe feststellbar: Einer allein trägt die Schuld!
Ein Sektenreferent warf mir einmal vor, dass die Namen der Touren, die aus der griechischen Mythologie gewählt sind, eine unwiderstehliche Mission an die Bergsteiger sei und diese in ihrem naiven Gemüt in eine Welt verführt werden, aus der sie nie mehr entrinnen können. Die heimliche Beeinflussung erobere mitunter sogar jene Welten, die bislang noch frei von Propaganda und versteckter religiöser Politik gewesen seien. Die Natur ist mittlerweile „Sekte“ geworden und der Guru habe die blanken Kalkfelsen zu seinem Besitze auserkoren.Am Gipfel angekommen, überlegten wir gemeinsam, welchen Namen wir der Tour geben könnten. Ich beklagte mich über die Bergführer, da sie die traditionelle Stilform gebrochen hatten und einige Sanduhren mit Bohrhilfe einrichteten. Mein Vorschlag war es, der Tour den Namen „Il diseducato“ zu geben, was so viel heißt wie „Der Unerzogene“. Gemeint war von mir der unerzogene Bergführer. Dass aber meine Freunde im Eifer des Gefechtes von Projektionen, den Spieß mit Vorsatz und höchst gekonntem Mienenspiel umkehrten, ahnte ich noch nicht sogleich.
Beim Abstieg bemerkte ich aber immer wieder heimliche Diskussionen hinter meinem Rücken und ein fast schadenfrohes Lächeln. Ich selbst kümmerte mich um die Suche des Weges durch die Felskulissen hindurch und gab mich mit den weiteren Kindereien nicht ab. Sollten doch die Bergsteiger erst einmal in eine philosophische Begrifflichkeit eintreten, damit sie ihr ungehaltenes Gemüt zügeln lernen. Schließlich hatte ich jene lastenden Sorgen, die mir das Gefühl bis in die Magengrube hinein gaben, dass – wenn die Zeitungen nur geringfügigst die Wahrheit schreiben, aber eben nur ganz geringfügig – ich in aller Realität doch zu den schlechtesten Bestandteilen der Welt gehören müsse. Wieder schmunzelten die Bergführer. Ich schlug demonstrativ einen zusätzlichen Haken in die Abseilpiste und wollte den Prominenzbergführern beweisen, was ein richtiger Felshaken, klassisch und schön, am richtigen Ort geschlagen, bedeuten könne. Aber zu meiner Überraschung lobten sie nicht den soliden Haken, sondern sagten: „Eine Tour beginnt erst wenn du unten bist und in die Hütte einkehrst. Klettern ist nur ein Vortraining. Der Wein, der Gesang, die Lust zu fabulieren, ein bisschen zu brüllen und mit Frauen zu scherzen…
Bergführer haben häufig die Tugend, dass sie den Menschen zu einem „ordentlichen Bergsteiger“ erziehen wollen. Vielleicht erlebt man diese Tugend in manchen Fällen, und im spezifischem gehöre ich wohl zu diesen Ausnahmen, als Untugend. Der zu Erziehende erlebt meist die Maßnahmen der Autoritäten als hart und unbarmherzig. Jedenfalls sagte Ivo zu mir: „Aus dir, dem diseducato wird ein educato con bravura werden!“ Das Training solle von sofort an mit den Übungen im Wirtshaus und mit ordentlicher bayrischer Mundart beginnen.
„Und wir werden den Ruhm genießen, dass wir dich zu einem vernünftigen Bürger erzogen haben. Die Welt wird stolz auf uns sein und alle werden sie sagen: Er ist doch nicht so schlimm.“