Artikel von Heinz Grill:
Der Körper als Abbild des Kosmos
Die allgemeine Übersetzung von paschimottanasana als „Stellung von Kopf und Knie“ ist leider sehr ungenau, denn der ursprüngliche Name bedeutet genau genommen „intensive Streckung des Rückens“. Pascima heißt in der wörtlichen Übersetzung Westen und uttana beschreibt die Intensität einer Streckung. Der menschliche Körper wurde früher im Yoga in einer gesamtkosmologischen Betrachtung erlebt und somit benannte man den Rücken als den westlichen Anteil des gesamten Leibgebildes. Indem der Rücken intensiv ausgestreckt wird, trägt man den Kopf mehr über die Knie hinaus und beabsichtigt deshalb mehr eine andere, viel weiter ausgedehnte Formung, als sie zustande kommen würde, wenn der Übende den Kopf nur zu den Knien hinunterdrückt.
Für die vorzügliche Nutzung der Heilwirkung dieser Position sollte der Übende keinesfalls zu früh in die mit dem Kopf nach unten gedrängte Stellung arbeiten, vielmehr muss er sich, um seine Wirbelsäule und die Bandscheiben zu schonen, regelrecht und gekonnt in die Länge begeben. Führt er ohne diese ausdehnende Dynamik den Kopf zu früh nach unten und rundet er unter Belastung mehr als gewöhnlich seinen mittleren Rücken, prädestiniert er Bandscheibenvorfälle im Lendenbereich. Die Ausdehnung, die möglichst aus der Mitte des Rückens erfolgen soll, ist deshalb für diese Stellung und für ihre heilsame Wirkung bedeutungsvoll.
Die Ausführung der Kopf-Knie-Stellung
Für die Ausführung von pascimottanasana erscheint es günstig, wenn man von allem Anfang an den Brustkorb, insbesondere die Rippenbögen, nach oben anhebt. Diese Anhebung des Brustkorbes, die möglichst aus der Mitte der Wirbelsäule geschieht, sollte während des Hineingehens nach vorne mehrmals erfolgen. Der Brustkorb richtet sich dadurch über die Kniegelenke hinaus und der Rücken erfährt eine gesamte Längsausdehnung. Erst nachdem diese ausreichend geschehen ist, streckt sich der Übende mit den Händen über die Füße hinaus und senkt zuletzt den Kopf mehr Richtung Schienbeine. Gelingt diese Ausdehnung nur partiell, so sollte der Kopf erhoben bleiben und der Brustkorb in aktiver, noch nach vorne strebender Dynamik. Die Arme gleiten lediglich nach vorne oben in die Länge.
Damit eine vorzügliche Heilwirkung erzielt werden kann, erspürt der Übende die Wirbelsäule auf der Höhe etwa des 9. und 10. Brustwirbels. Hier, in dieser Mitte, sollte die beginnende Dynamik zum Wachsen gelangen, während der Nacken und die Schultern einigermaßen entspannt bleiben. Der Übende zieht förmlich aus diesem Zentrum die Wirbelsäule in die Länge nach vorne. Er zentriert sich, indem er den Oberkörper entspannt lässt und die Mitte intensiv beanspruchen lernt.
Die Heilwirkung für den Stoffwechsel
Die Ausdehnung in pascimottanasana geschieht zentral aus dieser Mitte der Wirbelsäule, verströmt sich zentrifugal und wirkt daher entlastend auf die Peripherie. Die Heilwirkungen, die aus dieser gekonnten und zentrierten Anspannung aus der Mitte der Wirbelsäule erfolgen, sind von erstaunlicher Bedeutung. Jede Anspannung die sehr zentriert, bei gleichzeitiger gelöster Schulter- Nackenpartie erfolgt, wirkt dynamisierend auf die Stoffwechselanlage. In der Region des Magens, der Pankreasdrüse und der Galle finden sehr aktive Umsetzungsprozesse mit der Nahrung und Enzymbildungen statt. Es ist diese obere Verdauungsregion von der unteren, die im Zentrum des Dünndarms ruht, dahingehend unterscheidbar, dass vor allem die katabolen Prozesse überwiegen, während im Dünndarm die anabolen Phasen dominieren.1)Die anabolen Prozesse sind die aufbauenden, während dei katabolen die abbauenden Prozesse darstellen. Wird die Nahrung nicht im vollständigen Maße durch die Salzsäurewirkung des Magens, durch Pepsinogene in der Kurvatur und den Säften der Pankreasdrüse, die im Duodenmum einmünden zersetzt, so bleiben Rückstände mit Toxinwirkungen bestehen. Schlackenbildungen und Belastungen des Leberorgans bilden eine Folge dieser mangelnden, im Stoffwechsel so notwendigen, katabolen Vorgänge.
Zur Bewältigung des Nahrungsstromes benötigt der Mensch einen gewissen Krafteinsatz. Bei Müdigkeit und starker Erschöpfung oder bei unruhigen Verhältnissen sollte man nicht zur Kompensationhandlung des Essens tendieren, denn man wird feststellen, dass man dieses schlecht verdaut. Es sind jedoch weniger die aufbauenden Stoffwechselvorgänge, die sich bei Erschöpfung und Unruhe stören, sondern sogar mehr die abbauenden Prozesse. Wenn man allgemein sagt, dass die Kopf-Knie-Stellung verdauungsstärkend wirkt, dann ist diese Wirkung deshalb der Fall, da die katabolen Prozesse durch die intensive, zentriert angesetzte Dynamik angeregt werden.
Zentrierte Anspanung bei gleichzeitig offener Bewusstheit
Betrachtet man das Bild dieser zentrierten und gelungenen Anspannung in pascimottanasana, gewinnt man den Eindruck, dass der Übende willentlich hochaktiv und gleichzeitig dennoch wie körperlich zurückweichend arbeitet. Er fühlt sich zentriert und gleichzeitig nach außen offen. Die wesentlichste Heilwirkung dieser Stellung liegt in der Anregung dieser erwähnten gesunden katabolen Prozesse, die in der Folge eine Harmonie auch im unteren Verdauungssystem erzeugt. Neben dieser Wirkung erhält das vegetative Nervensystem eine natürliche Anregung, sowohl im Grenzstrang des Rückens der sympathischen Nerven, als auch des gesamten Komplexes, die der Nervus Vagus umfasst.2)Der Nervus Vagus ist der größte Nerv des Parasympathikus. Er ist an der Regulation der Tätigkeit fast aller inneren Organe beteiligt. Diese Praxis mit klarem Einsatz und Bewusstheit fördert auch infolge der Gliederung im Sinne der Spannung in der Mitte und Entspannung des Nacken-Schultergürtels eine psychische Ausgeglichenheit mit einerseits natürlicher Ruhe und andererseits sinnesfreudiger Wachheit. Der geschickte Einsatz erweckt ein Vertrauen in die persönlichen Kräfte.
Weitere Heilwirkungen
Eine andere positive Qualität, die durch die Zentrierung der Wirbelsäule im manipura cakra3)Das manipura cakra ist das dritte der sieben Energiezentren, die die Yogalehre kennt. Es befindet sich auf der Höhe des Magens. durch das Ausdehnen in die Längsrichtung nach vorne erfolgt, ist die Wirkung auf den Gehirnstoffwechsel, ganz besonders auf die Ausschüttung von Serotoninen,4)Serotonin ist ein Gewebshormon und Neurotransmitter. Es kommt unter anderem im Zentralnervensystem, Darmnervensystem, Herz-Kreislauf-System und im Blut vor. Der Name dieses biogenen Amins leitet sich von seiner Wirkung auf den Blutdruck ab: Serotonin ist eine Komponente des Serums, die den Tonus (Spannung) der Blutgefäße reguliert. Es wirkt außerdem auf die Magen-Darm-Tätigkeit und die Signalübertragung im Zentralnervensystem. wie auch Dopaminen,5)Dopamin ist ein wichtiger, überwiegend erregend wirkender Neurotransmitter des zentralen Nervensystems. Gebildet wird es in (postganglionären sympathischen) Nervenendigungen und im Nebennierenmark als Vorstufe von Noradrenalin. Im Volksmund gilt es als Glückshormon. Die tatsächliche Bedeutung des Dopamins wird allerdings hauptsächlich im Bereich der Antriebssteigerung und Motivation vermutet. die stimmungsaufhellend wirken und zuletzt eine Stärkung im gesamten Nervensystem leisten.
Die wärmeanregende Aktivierung der oberen Stoffwechselorgane fördert die gesamte Blutverteilung und Blutversorgung der Wirbelsäule, sodass ein schnelles regeneratives Eingreifen nach Verausgabungen zum Beispiel nach langem Stehen oder Sitzen erfolgt. Die Wirbelsäule gewinnt über das manipura cakra sehr schnell wieder ihre Spannkraft. Grundsätzlich erhält die Längsstreckung der Wirbelsäule das gesamte umgebende Stützgewebe, das die Bandscheiben im Halteapparat stabilisieren, gesund und verhindert dadurch degenerative Prozesse. Anstelle, dass die Bandscheiben durch ein zwanghaftes Drücken der Wirbelsäule nach unten, nach hinten und seitlich belastet werden, erhalten sie durch die Längsausdehnung einen Raumgewinn und entfalten dadurch ihre elastizierende Funktion.
Anmerkungen
⇑1 | Die anabolen Prozesse sind die aufbauenden, während dei katabolen die abbauenden Prozesse darstellen. |
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⇑2 | Der Nervus Vagus ist der größte Nerv des Parasympathikus. Er ist an der Regulation der Tätigkeit fast aller inneren Organe beteiligt. |
⇑3 | Das manipura cakra ist das dritte der sieben Energiezentren, die die Yogalehre kennt. Es befindet sich auf der Höhe des Magens. |
⇑4 | Serotonin ist ein Gewebshormon und Neurotransmitter. Es kommt unter anderem im Zentralnervensystem, Darmnervensystem, Herz-Kreislauf-System und im Blut vor. Der Name dieses biogenen Amins leitet sich von seiner Wirkung auf den Blutdruck ab: Serotonin ist eine Komponente des Serums, die den Tonus (Spannung) der Blutgefäße reguliert. Es wirkt außerdem auf die Magen-Darm-Tätigkeit und die Signalübertragung im Zentralnervensystem. |
⇑5 | Dopamin ist ein wichtiger, überwiegend erregend wirkender Neurotransmitter des zentralen Nervensystems. Gebildet wird es in (postganglionären sympathischen) Nervenendigungen und im Nebennierenmark als Vorstufe von Noradrenalin. Im Volksmund gilt es als Glückshormon. Die tatsächliche Bedeutung des Dopamins wird allerdings hauptsächlich im Bereich der Antriebssteigerung und Motivation vermutet. |