Die Logik der Freiheitsempfindung

Artikel von Heinz Grill

Während das menschliche natürliche Verlangen innerhalb der irdischen Verhältnisse nach einer größtmöglichen Freiheit strebt, offenbart die geistige Welt ein nahezu gegensätzliches Bild im Sinne eines Wollens und Werdens zur Verpflichtung. Die Betrachtung des Menschen kann nach rein psychologischen und sichtbar materiellen Erscheinungsformen erfolgen und dann ist jener Bürger frei, der ausreichende Privilegien besitzt, die ihn ökonomisch unabhängig machen und ihm keine Autoritäten gegenüberstellen. Ein Herrscher, der sich guter Gesundheit erfreut, Macht besitzt und keine Autorität über sich ertragen muss, erscheint im irdischen Dasein in einer uneingeschränkten Freiheit und dies in ganz besonderem Maße, wenn er gegenüber seinem Volk oder der Gesellschaft keinerlei Verantwortung übernimmt. Die Freiheit im Irdischen könnte sich ganz der Verpflichtung, mit ihrem moralisch menschlichem Bestand und ihrer geistigen größeren Wirklichkeit, entziehen. Ein subjektiv gewählter Freiheitsbegriff mit den emotionalen Gefühlen des Freiseins, ohne eine Wahrnehmung zur geistigen Wirklichkeit, ist sehr einseitig.

In der geistigen Wirklichkeit, die real in den sogenannten höheren Welten, dort, wo die Schöpferkräfte im Sinne von Engelshierarchien walten und dort, wo die sogenannte Ideen- oder Gedankenwelt, wie sie Platon beschrieben hat, existiert, gibt es keine Freiheit, denn es fehlt ihr Gegenbildnis, die Unfreiheit. Vielmehr lebt in dieser ganz anderen und mit irdischen Sinnen so schwer fassbaren Dimension die Erscheinungsform der Notwendigkeit, der dringlichen Bedürftigkeit, der Erfordernis und somit der Verpflichtung. Das Gesetz des Erschaffens von einem kleineren zu einem größeren Ganzen erstrahlt in dem notwendigen Erfordernis seines eigenen Wollens und Werdens. Ein Gedanke oder eine Idee, die der geistigen Welt angehört, will durch den Menschen in ihrer ganzen Seinskraft auferstehen und trachtet nach einer Identität mit der irdischen Welt. Sie wollen wachsen und werden höchste Moralität hervorbringen. Die Schönheit einer Idee will bis in die Wahrnehmung der Form gelangen.

Die Empfindung der Freiheit im Gegensatz zu der Gebundenheit

Ein Blick auf die menschlichen Gefühle, wie sie heute im Sinne einer Verantwortlichkeit angelegt sind, zeigt, dass das menschliche Wahrnehmungsvermögen gegenüber den äußeren, materiellen Erscheinungen ein sehr hohes Pflichtgefühl aufweist und im Gegensatz dazu gegenüber geistigen Wahrheiten und den nachtodlichen Welten, beispielsweise den Verstorbenen gegenüber, sowie auch den Gesetzen, die in den geistigen Welten immanent sind, so gut wie keinerlei verpflichtende Empfindungen existieren. Die Welt der Materie mit all ihren sichtbaren und spürbaren Äußerungen dominiert den Seelenleib des Menschen und verdrängt die höhere Gesetzmäßigkeit, die im Stillen aller Vorgänge der Welt atmet.

Wer eine geistige Schulung antritt, muss sich darüber klar werden, dass er viele irdisch geprägte Begehrens- und Verhaltensmuster aufgeben muss und zugunsten einer größeren Verantwortung, die er gegenüber der Menschheit und der ganzen Weltenschöpfung mit all ihren geistigen Entwicklungsdimensionen in wachsendem Maße aufnimmt, eine Beziehung knüpft. Wenn man allgemein davon spricht, dass das sogenannte höhere Selbst nicht ein rein phantastisches Gefühl der Einbildung darstellt, sondern ein kosmisches und geistiges Weltenselbst, ein moralisch gültiges, allumfassendes Bewusstsein, wird es deutlich, dass man keinesfalls sagen kann, man hätte nun Gott, das heißt das eigene Selbst im Inneren gefunden und verwirklicht oder, wie es viele Esoteriker und sogenannte Erleuchtete sagen, dass sie durch ihre göttlichen Entdeckungsreisen nicht mehr im Rad der Wiedergeburt von Inkarnation zu Inkarnation stehen. Vielmehr muss man unweigerlich erkennen, dass jede Selbstverwirklichung einen wachsenden Schritt zu sozialer und allgemein gültiger Verantwortung gegenüber den Mitmenschen darstellt, aber dies nicht ohne eine geistige Wahrheitsempfindung.1) Es ist falsch, wenn Kurt Tepperwein sagt, man hätte alles Wissen, das in Büchern steht, bereits in sich und müsste deshalb keine Bücher lesen. Ein Studium ist für Spiritualität sogar dringendst notwendig, denn der Mensch trägt zwar die Gesetze der geistigen Welt in sich, wie ein verborgenes Keimgut, jedoch muss er sie durch Studiengänge und erkenntnisforschende Tätigkeit entdecken lernen. Durch die Beschäftigung mit spirituellen Gedanken entwickelt sich die geistige Form des Menschen. Sie würde sich nicht entwickeln, wenn der Mensch bei sich selbst abgeschlossen bleiben würde und den Weg der Selbstverwirklichung mit seinem bisher angelegten Inneren zu leisten versuchen würde. So wie ein Architekt nicht ohne Studium und Fachwissen Architekt werden kann, so kann eine Person nicht ohne Studium der geistigen Welten und deren Gesetzmäßigkeiten, Formen und moralischen Grundsätzen zu einer spirituellen Person werden. Geistige Weiterentwicklung bedeutet keinesfalls Macht im Sinne eines Beherrschens und Dominierens, sondern ein großer und zentrierter Atemhauch der Verantwortung, den man aus einer wirklich errungenen spirituellen Erkenntnis gewinnt. Die Empfindung von Freiheit ist tatsächlich nur partiell gegeben und dies nur dann gegenüber gewissen irdischen Gegebenheiten, wenn diese durch eine höher gelagerte und fundiert erworbene Erkenntnis transzendiert werden kann. Im Allgemeinen gibt es aber im irdischen Dasein ohne das Hinzukommen eines entwickelten geistigen Verwirklichungsschrittes keine Freiheit.2) Die Freiheit, die in der Seele entwickelt wird, korrespondiert mit dem sogenannten freien Atem. Siehe das Buch „Der freie Atem und der Lichtseelenprozess“

Der Bürgermeister Cateno de Luca in Sizilien vor seinem Zelt im Hungerstreik (Zeichnung: Johanna Wunderlich)

Leider sehen viele Personen, die sich für eine geistige Entwicklung interessieren, die Studiengänge als eine alternative Möglichkeit, sich von den so schwer geplagten Lebensanforderungen hinweg zu flüchten und sich mit angenehmeren und freudigeren Gefühlen zu umgeben. Der Weg in eine neu gewählte Gruppe drängt sich in der Coronazeit, die mit all ihren irrationalen Machenschaften arbeitet und die Seelen der Menschen kollektiv vereinnahmt, auf. Vielleicht mag dieses Frei-Machen von den äußeren Bedrängnissen ein elementarer und wichtiger Schritt zu einer ersten Entwicklung sein, wohl aber stellt sich dennoch die Frage nach der Verpflichtung, die jeder einzelne Mensch gegenüber der gesamten Menschheit und gegenüber einem geistigen Werdeprozess hat und einnehmen muss. Vielleicht könnte man sich die Frage nach einem etwas altertümlichen und doch klassischen, immer gültigen Sinne stellen und eruieren, zu welcher inneren, fundiert persönlichen Opferleistung man gegenüber der Welt und ihrem günstigen Fortbestehen wirklich bereit ist. Ein sizilianischer Bürgermeister ging an den Strand und trat in den Hungerstreik, da er mit den Bedingungen der Politik und der Lügen, die allen Menschen auferlegt werden, sich nicht mehr einverstanden erklären konnte. Aus den Zeitbedingungen heraus gesehen und aus einer natürlich gewählten sozialen Verantwortung gegenüber den Mitmenschen ist eine Opfertat wie diese wohl sehr gut verständlich und zeigt ein Interesse am Wohlergehen eines Ganzen.

Würde man seine irdische Freiheit nicht zu sehr betonen und würde man irdisches Wohlergehen nicht an die erste Stelle des Lebenszieles setzen, so würde man sich heute wohl leichter gegen die ganzen Lügenkampagnen und gegen die Übergriffigkeit der irrationalen Bestimmungen verwehren. Vielleicht würden alle Menschen, die die Vernunft wichtiger erachten, als ein äußeres Lebensgefühl, ebenfalls in einen Streik gehen, vielleicht nicht in einen Hungerstreik, aber allgemein in einen Arbeitsstreik; oder sie würden einfach zu Hause bleiben, sodass jede Wirtschaft automatisch in größte Nöte kommen würde. Ständig im Trauma sich selbst zu erniedrigen und im weiteren Verlauf Pakete von Lügen zu akzeptieren, zerstört alle noch bestehenden, restlichen Empfindungen zu einer irdischen Normalität und einem Leben in Selbstbestimmung, sowie ein geistiges inneres Pflichtgefühl. Was ist oder wo liegt die Pflicht eines jeden einzelnen Bürgers in der Coronazeit? Das Eintreten in eine beste Verpflichtung jedenfalls macht den Menschen gegenüber den irdischen Bedingungen freier, obwohl es eine große Opferleistung abverlangt.

Eine geistige Schulung gibt dem Menschen die Möglichkeiten, seine innere Verpflichtung zu entdecken und sein Leben aus geistigen, wahrnehmbaren Inhalten zu steuern, sodass nicht nur eine Pseudofreiheit im Irdischen, sondern ein wirkliches Freiheitsgefühl in umfassendem Maße in der Seele des Menschen aufersteht. Eine materielle Freiheit kann den Menschen nicht ausreichend zufriedenstellen, er braucht vielmehr darüber hinaus eine geistige Kraft, die ihn über die Ängste von materiellen Verlustgefühlen hinaushebt und ihm eine wirkliche Sicherheit gibt. Ein verantwortlicher, leistungsintensiver und bewusst getätigter Entwicklungsschritt eines einzelnen Menschen zu einem geistigen Aufstieg und größerer Verantwortung kann beispielsweise fünfhundert andere, schwächer gestellte Menschen gesundheitlich fördern und ihnen eine bessere Zukunftshoffnung erteilen. Nicht nur zwei oder drei Angehörige erhalten den Lohn eines Entwicklungsschrittes, den das einzelne Individuum tätigt, es werden vielmehr sogar viele Menschen erreicht und die Konditionen in der Welt verbessert. Jede positiv fortschreitende Entwicklung fügt der Menschheit einen aufgehenden Sonnenschein hinzu, der die fröstelnde Kälte mit ihrem einschnürenden Zugriff erlöst, aber diese Wege bedürfen an Opferkraft und Schulung und an der Bereitschaft, sie einzugehen, fehlt es heute.

Ein Beispiel aus den Evangelien

Und siehe, einer trat herzu und sprach zu ihm: Lehrer, was soll ich Gutes tun, damit ich ewiges Leben habe? Er aber sprach zu ihm: Was fragst du mich über das Gute? Einer ist gut. Wenn du aber ins Leben eingehen willst, so halte die Gebote. Er spricht zu ihm: Welche? Jesus aber sprach: Diese: Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsches Zeugnis geben; ehre den Vater und die Mutter; und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Der Jüngling spricht zu ihm: Alles dieses habe ich beobachtet; was fehlt mir noch? Jesus sprach zu ihm: Wenn du vollkommen sein willst, so geh hin, verkaufe deine Habe und gib den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben; und komm, folge mir nach. Als aber der Jüngling das Wort hörte, ging er betrübt weg, denn er hatte viele Güter. (Matthäus 19,16-22)

Die meisten Menschen folgen eifrig und doch sehr passiv den einzelnen Geboten, interpretieren sie nach subjektiven Einschätzungen und fühlen sich im irdischen Leben dadurch rechtschaffen, sicher und vielleicht sogar ausreichend frei. Die irdischen Freiheitsgefühle können aber sehr trügerisch sein, denn sie gründen sich meist auf einem Wohlgefühl des Körpers. Die geistige Schulung zeigt aber ab bestimmten Momenten, dass der Einzelne seine Reichtümer – und gemeint sind nicht die äußeren, sondern die inneren Bindungsanhäufungen – loslassen muss. Nicht die äußeren Umstände fixieren das menschliche Gemüt an die Welt und verhindern einen Eintritt in das Licht der beschaulichen Erkenntnis, sondern die Anhaftungen im Inneren, die psychologischen, mit Traumen verhäkelten Gefühle, die Wichtigtuereien der kleinlichen Selbstbehauptungen und die rechthaberischen Zwänge, ohne die so mancher glaubt, nicht leben zu können, sind wie Reichtümer, die meist sehr tiefgründig angereichert sind. Der Mensch ist jedenfalls in diesen körpergeprägten und psychisch wahrnehmbaren Ebenen ein Sklave seiner selbst und vielfach entmutigt, geschwächt und in entschiedenen Momenten unfrei zur konstruktiv produktiven Entwicklung. Wie häufig projizieren deshalb die verschiedenen Personen, die längst ihre falschen Urteile und ihre eigenen egozentrischen Selbstgefühle loslassen müssten, auf die Mitmenschen, auf die sogenannte schlechte Gesellschaft und nicht selten auf jene Personen, die ihnen durch Wissen, Intelligenz und ein Maß an Seelenreife überlegen sind.

Heute steht die Menschheit zu einem großen Grade an dieser Schwelle, die in den Evangelien beschrieben ist. Das nur Gute-Handeln im Sinne einer Befolgung von Geboten und einer stillen Beschaulichkeit, die so mancher durch ein sogenanntes Gutmenschentum gewonnen hat, genügt für die Entwicklung nicht mehr. Die Menschen müssen heute Ideale denken, diese mit opferbereitem Mut in die Praxis umsetzen und über ihre Taten und Entscheidungen Verantwortung übernehmen. Ein stilles Zurückgezogen-Sein, wie es gern der Yoga demonstriert oder wie man es in einem noch älteren klösterlichen Dasein kennt, ist für die Gegenwart untauglich.

Die eigenartigen Gegenbilder zu Vernunft und Entwicklung

Je mehr geistige Disziplinen und die daraus entstehenden wahren Empfindungen für Verpflichtung und Freiheit verloren gehen, desto mehr wird der Mensch auf seinen eigenen Körper zurückgeworfen und an die leibinternen Gefühle gefesselt. Esoterisch gesehen zeigen sich regelrechte, aus dem Organischen aufsteigende Impulse, die das Bewusstsein des Menschen gefangen nehmen und irritieren. Die niedrigen Impulse des sogenannten Astralleibes, die Überlebensverhaltensmuster ergreifen die Vernunft und stürzen diese in eine „Lügenvernunft“. Die Suggestionen, die heute die Zeit nach außen verbreitet, werden im individuellen Dasein zu Autosuggestionen und der Mensch kann nun nicht mehr unterscheiden, ob er die Meinung, die er besitzt, selbst erworben hat oder ob diese ihm auferlegt wurde. Der gesamte Empfindungsleib gerät so durcheinander, wie ein Flussbett bei einer Überschwemmung. Die Störungen aber zeigen sich, da die Menschen zu sehr den Suggestionen der Zeit gehorchen und scheinbar eine Freiheit im Irdischen erretten oder vermeintlicherweise erhalten wollen, die noch nicht die Essenz einer Verpflichtung angenommen hat.

Es zeigen sich die verschiedensten Gegenbilder durch die vegetative Dystonie3) Vegetative Dystonie ist ein Sammelbegriff für eine Reihe unterschiedlicher Symptome, die mit einer Fehlfunktion des vegetativen Nervensystems zusammenhängen. Zu den Beschwerden gehören Nervosität, Schlafstörungen, Krämpfe und Herz-Kreislauf-Probleme., die in der Menschheit die Führung übernommen hat. Die Politik macht sich zu einem „Komödienstadel“ und die Wissenschaft verkauft ihre Forschung und nimmt die Rolle einer kirchlichen Institution, die Dogmen ohne Erklärung demonstriert, ein. Das organische Leben steigt in das Bewusstsein hinauf und verdrängt die gesunden Wahrnehmungsvorgänge und jegliches Wirken eines inhaltlichen Gedankens. Die Medien verlieren selbst ihr Sensationsinteresse und verkünden in funktional maschineller Form immer die gleichen Sätze, wie beispielsweise „und die Zahlen der Infizierten sind so hoch wie noch nie.“

Gegenbilder zu Vernunft und geistiger Entwicklung entstehen auch auf den religiösen Gebieten, in denen der Egoismus oftmals auf noch viel schlimmere Weise eingegraben ist, als in gewöhnlichen Lebens- und Arbeitssituationen. „Ich kann nur das tun, was ich wirklich will!“, lautet der Selbstbehauptungssatz und demonstriert eine ungemein hohe Anhaftung an die emotionalen Stimmungen des Körpers. 4) In einer geistig spirituellen Schulung entwickelt sich häufig der Konflikt, dass ein Schüler sagt, er möchte frei sein und nur das tun, was ihm sein Körper und seine Gefühle signalisieren. Wieder andere sagen, sie können nur das tun, was sie bereits im vollen Umfang verstehen können. Diese Aussagen sind jedoch subjektiv und signalisieren starke Bindungen im Gemüt. Richtig ist es, dass auf vernünftige und geordnete Weise der Lernende sich längere Zeit geistig-spirituellen Inhalten hingeben muss, denn erst nach Tagen, Wochen oder Monaten lösen sich alte Zwänge und die spirituellen Inhalte werden zu neuen Kräften. In diesem Sinne gelten beim Lernen die gleichen Gesetze wie beim Erwerben einer Sprache. Solange jemand von seiner Muttersprache ausgeht, kann er keine Fremdsprache erlernen. Er muss sich auf die neuen Empfindungen ausrichten, diese erwerben und erst nach einer angemessenen Zeit tragen die neuen Worte eine angemessene Kultur und Seelenempfindung in das Innere herein. Der sizilianische Bürgermeister folgt jedenfalls nicht seinen Leibgefühlen, wenn er das Opfer des Hungerstreikes aufnimmt und ordnet seinen Willen nach einer größeren Zielrichtung.

Ein Blick in die seelische nachtodliche Welt zeigt sehr deutlich, dass das menschliche Dasein nicht diejenige Wirklichkeit repräsentiert, die es sich mit dem eigenen verhafteten Denken, Fühlen und Wollen angeeignet hat, sondern vielmehr in die Welt des Gebens und des Opferns eintritt. All jene Gaben, die der Einzelne im Leben für ein Universales und Ganzes geleistet hat und die Gefühle, die er in authentischer Wirklichkeit errungen hat, sind sein wahrer Reichtum, während die selbstanhaftenden eigenmächtigen Willensforderungen, leibgebundenen Gefühle und die so sehr beschränkten intellektuellen Reime nicht nur keinerlei Wert haben, sondern die Seele im Nachtodlichen von einer kosmischen Einigung und lichten Wahrnehmung abschirmen.

Praktische Möglichkeiten zur Entwicklung einer größeren Freiheitsempfindung

Wenn eine Person an Übergewicht leidet, kann sie wohl nicht direkt am Körper ansetzen und die Gewichtsmasse durch extreme Nahrungskarenz zufriedenstellend abbauen. Sie gibt sich vermutlich in viele Zwänge, die sie erneut auf den Körper zurück fixieren und eine Unfreiheit bescheren. Je mehr das Beziehungsverhältnis in eine neue Ordnung gebracht wird, desto natürlicher gelingt in der Regel die Gewichtsregulation und obwohl eventuell eine gewisse Disziplinierung auf dem Wege des Essens erfolgen muss, entsteht mit größerer Freude eine Körperfreiheit und ein ästhetischer Lebensgewinn.

Wer aber zeigt dem Menschen die rechte Ordnung, die er im Sinne einer gezielten Opferleistung gegenüber unangebrachten Verhaltensweisen und Lastern leisten muss und welche Schritte er mit präziser Aktivität in die Zielperspektive führen lernt? Es braucht zu dieser Klärung des persönlichen Verhältnisses weniger die direkte psychotherapeutische Analyse, sondern vielmehr die spirituelle und fundierte Lebensberatung. Der Berater muss mehr als ein Coach sein, denn er muss die spirituellen Gesetze kennen und Einsichten in die geistige Welt besitzen. Gerade im Loslassen von negativen Eigenschaften legt sich der Mensch die meisten unsoliden Zwänge auf und verfehlt mit einer langwierigen Selbstbeschäftigung häufig seine wirklichen Lebensziele. Je mehr nämlich sich jemand mit sich selbst beschäftigen muss und in zermürbende Selbstanalysen eintaucht, desto mehr Zeit verliert er für die Realisierung eines geeigneten Lebenswerkes und er gehört gewissermaßen dann nicht mehr sich selbst im Sinne eines größeren Ganzen, sondern nur noch seinen eigenen verhafteten Leibgefühlen.

Ähnlich, wie Edward Bach ausdrückte, dass man negative Eigenschaften und Laster nicht bekämpfen solle, sondern durch ihre Gegenbilder ersetzen müsse, verhält es sich nun, nur in etwas erweiterter Form, auf dem spirituellen Weg. Aus den Bindungen und aus den negativen abschirmenden Potenzialen, die die Seele an einem Entwicklungsschritt hindern, kann die Ideenkraft und disziplinierte Verwirklichung einer neuen Dimension erwachen. In praktischer Form könnte dies, wie an folgenden Beispielen aufgezeigt ist, aussehen:

  1. Wer sehr schnell über andere urteilt und keinerlei Konstruktivität über seine kleinlichen Bewertungen hinaus entwickelt, verbietet sich im disziplinierten Maße jegliche schnellfertigen Worte des Besserwissens, Verurteilens oder einseitigen Wertens. Darüberhinaus beschäftigt er sich mit der Natur seiner Mitmenschen und gewinnt ein konstruktives, umfassendes Urteil, das in jeder Weise einfühlsam, erbauend und menschlich verbindend wirkt.
  2. Wer unter Beziehungsproblemen leidet und sich aus Sicherheitsgründen an seinen Partner, seine Familie oder an Freunde anhaftet, ist beständig unfrei. Er muss diese Anhaftungen gänzlich loslassen und ein größeres gesamtes Beziehungsideal für die Menschheit zu einer höheren Idee entwickeln. Ein größeres Beziehungsideal lässt ihn über die kleinlichen Ängste hinausgleiten.
  3. Wer Angst um seinen Arbeitsplatz hat und infolge der Coronamaßnahmen Abhängigkeiten mit dem Gesellschaftssystem eingeht, die er nicht befürwortet, muss diese kleinlichen Ängste erkennen und für nichtig erklären. Gleichzeitig entwickelt er nicht für sich selbst eine ausschließliche Rettungsstrategie, sondern blickt auf die Menschheit und ihre Nöte und übernimmt eine größere Verantwortung für viele, die in ähnlichen Situationen sind.
  4. Wer spirituell orientiert ist und glaubt, er müsse viel Zeit für sich selbst haben und sich vom Leben ständig zurückzieht, eliminiert am besten seinen falschen Selbstbegriff und verliert keine Zeit mit persönlichen Gebeten, Selbstgesprächen, Selbstanalysen und dem Studium seines eigenen Vorwärtskommens. Er kümmert sich am besten in der weiteren Ausrichtung um hohe Ideale und überlegt sich, wie diese in einer klaren Form in die Welt kommen.
  5. Wer Angst hat, sich auf eine nächste Dimension einzulassen, sollte schnellstens seine verborgene genießerische Eitelkeit aufgeben und sollte keine Zeit verlieren. Eine reservierte Zeit ist für diese Menschen eine verlorene Zeit und es gilt, die Zeit für verantwortliche Aufgaben und für die Entwicklung von Idealen zu nützen. Diese Menschen müssen Entscheidungen treffen lernen. Unabhängig davon, ob sie die Kraft zur Entscheidung spüren oder nicht. Ab jenem Moment, an dem sie eine Entscheidung getroffen haben, fließt ihnen eine neue Ätherkraft zu.5) Ätherkräfte sind im einfachen Sinne gesprochen aufbauende Lebenskräfte, die sich aus vernünftigen Ideen und Entscheidungen, die auch über längere Zeit durchgetragen werden, freisetzen.
  6. Wer geneigt ist, zu jammern und zu klagen, sich als Opfer von Kollegen oder von der Gesellschaft zu fühlen, muss diese Form der Aggression sofort begraben. Tränen sind in diesem Sinne nicht ein Ausdruck von Betroffenheit, sondern von aggressiver, versteckter Selbstbehauptung. Sie nützen niemandem und schaden der Entwicklung. Diese Menschen müssen sich um eine geistige Lebensauffassung bemühen und von einem spirituellen Gedanken ihr Leben formen.
  7. Jene, die immer gut sein wollen und am liebsten allen anderen um des eigenen Dünkels willen alles recht machen, jene, die glauben, sie würden mit ihrem Gutmenschentum im Himmel gut abschneiden, müssen sich eisern disziplinieren und ihre eigene hässliche, biedere Haltung überwinden. Sie müssten sich der Philosophie und dem glasklaren Denken hinwenden und von diesem ausgehend das Leben mit edlen Gedanken neu gründen.

Im Alleingang wird man diese Opferleistungen wohl niemals auf richtige Weise leisten, denn das menschliche Gemüt ist in seinem eigenen Wollen, das gepaart ist mit vielen Gefühlen, in sich selbst eingebunden. Durch geeignete Gespräche mit Personen, die in einer geistigen Disziplin ausreichend gegründet sind, können diese Opferleistungen auf freudige und richtige Weise entdeckt werden. Jeder Schritt in eine positive Entwicklung des Selbstpotentials im Sinne einer universalen Entwicklung führt in jedem Fall zu einer Befreiung von mindestens fünfhundert anderen Personen. Der Geistfunke bleibt nicht ein stiller, einsamer Bürger, er entzündet ein Feuer, das eine größere Verwandlung mit sich führt. Jener, der sich auf diesem Weg befindet und ein rechtes Opfer durch sich selbst und in sich selbst und darüber hinaus für die gesamte Menschheit erbringt, bemerkt, wie er einen Hauch von Empfindung von Freiheit erlebt.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Es ist falsch, wenn Kurt Tepperwein sagt, man hätte alles Wissen, das in Büchern steht, bereits in sich und müsste deshalb keine Bücher lesen. Ein Studium ist für Spiritualität sogar dringendst notwendig, denn der Mensch trägt zwar die Gesetze der geistigen Welt in sich, wie ein verborgenes Keimgut, jedoch muss er sie durch Studiengänge und erkenntnisforschende Tätigkeit entdecken lernen. Durch die Beschäftigung mit spirituellen Gedanken entwickelt sich die geistige Form des Menschen. Sie würde sich nicht entwickeln, wenn der Mensch bei sich selbst abgeschlossen bleiben würde und den Weg der Selbstverwirklichung mit seinem bisher angelegten Inneren zu leisten versuchen würde. So wie ein Architekt nicht ohne Studium und Fachwissen Architekt werden kann, so kann eine Person nicht ohne Studium der geistigen Welten und deren Gesetzmäßigkeiten, Formen und moralischen Grundsätzen zu einer spirituellen Person werden.
2 Die Freiheit, die in der Seele entwickelt wird, korrespondiert mit dem sogenannten freien Atem. Siehe das Buch „Der freie Atem und der Lichtseelenprozess“
3 Vegetative Dystonie ist ein Sammelbegriff für eine Reihe unterschiedlicher Symptome, die mit einer Fehlfunktion des vegetativen Nervensystems zusammenhängen. Zu den Beschwerden gehören Nervosität, Schlafstörungen, Krämpfe und Herz-Kreislauf-Probleme.
4 In einer geistig spirituellen Schulung entwickelt sich häufig der Konflikt, dass ein Schüler sagt, er möchte frei sein und nur das tun, was ihm sein Körper und seine Gefühle signalisieren. Wieder andere sagen, sie können nur das tun, was sie bereits im vollen Umfang verstehen können. Diese Aussagen sind jedoch subjektiv und signalisieren starke Bindungen im Gemüt. Richtig ist es, dass auf vernünftige und geordnete Weise der Lernende sich längere Zeit geistig-spirituellen Inhalten hingeben muss, denn erst nach Tagen, Wochen oder Monaten lösen sich alte Zwänge und die spirituellen Inhalte werden zu neuen Kräften. In diesem Sinne gelten beim Lernen die gleichen Gesetze wie beim Erwerben einer Sprache. Solange jemand von seiner Muttersprache ausgeht, kann er keine Fremdsprache erlernen. Er muss sich auf die neuen Empfindungen ausrichten, diese erwerben und erst nach einer angemessenen Zeit tragen die neuen Worte eine angemessene Kultur und Seelenempfindung in das Innere herein.
5 Ätherkräfte sind im einfachen Sinne gesprochen aufbauende Lebenskräfte, die sich aus vernünftigen Ideen und Entscheidungen, die auch über längere Zeit durchgetragen werden, freisetzen.

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