Artikel zur Yogastellung „der Fisch“ von Heinz Grill:
Der Wert eines differenzierten Denkens und Wahrnehmens
Ein sehr wesentlicher und effektiver Lernschritt beim Praktizieren einer klassischen Übung des Yoga kann die Entwicklung eines differenzierten Wahrnehmens, Denkens und Fühlens sein. Im Gegensatz zu einem sehr pauschalen, auf schneller Anschauungs- und Meinungsbildung entwickeltem Denken, bewirkt das differenzierte Erfassen, Beobachten und übersichtliche Erkennen von einem Phänomen oder einem Thema, ein erhebendes und lichtes Empfinden. Die Sinne erfreuen und erweitern sich an den Objekten der Beobachtung und Auseinandersetzung. Jede Übung, die ausgeführt wird, kann das Bewusstsein zu einer lichteren und freieren Wahrnehmungsfähigkeit führen, wenn sich der Übende zu einer wirklich detaillierten und differenziert gehaltenen Vorstellungstätigkeit und Anschauungsentwicklung erziehen lernt. Das differenzierte Denken steigert die Sensitivität des Nervensystems auf positive, oder besser ausgedrückt, stabilisierende Weise, es entwickelt die verschiedensten Gehirnareale mit ihren Synapsenverbindungen weiter und festigt in letzter Konsequenz die vegetativen Nerven.
Das Bild der Stellung
Die klassische Yogaübung des Fisches, in Sanskrit matsyasana, dürfte eine der leichteren und noch zugänglichen Yogaübungen sein, die sowohl in jüngeren als auch in älteren Lebensperioden zur Praxis anzuraten ist. Dieser Stellung, die unterschiedlich in Yogaschriften kommentiert wird, würde ich ganz besonders das seelische Bild des Differenziertseins und der daraus entstehenden sich erhebenden Sinnesfreude zuordnen. Die Beine bilden in der Grundstellung eine gerade Linie, sie bleiben in der Form und dennoch entspannt, der Brustkorb wölbt sich mit dem Brustbein in die weitest mögliche Durchwölbung und der Kopf fällt in der Fortsetzung schließlich nach hinten zurück in den Nacken und vollendet diese, nach aufwärts gerichtete Bogenspannung, indem der Scheitel den Boden berührt. Das Kiefer, das Gesicht und sogar der Nacken bleiben relativ entspannt. Die intentionierte Dynamik findet am vortrefflichsten in der Mitte der Brustwirbelsäule und zwischen den Schulterblättern mit einer starken Durchstreckung der einzelnen Wirbelsegmente statt. In der Fortsetzung dieser Spannung gleitet der Nacken und Hals bis zum Scheitel in die Bogenwölbung. Er gleitet im Anschluss an die Dynamik weiter, ohne sich aus eigener Kraft durchzuwölben. Für das Erleben ist diese fortgesetzte sanfte Bewegung bis zum Scheitel interessant und kann in das Bewusstsein rücken.
Das seelische Erleben im Fisch
Das Erleben im Fisch kann gezielt auf dieses differenzierte Anspannen, bei gleichzeitigen formenden Gliedmaßenbewegungen und völlig entspannten Partien, gelenkt werden. Der Übende bleibt umsichtig, wachsam, beobachtend und investiert seine Willensenergie in die zentrale Anspannung der Brustwirbelsäule. Anspannen, Formen und Entspannen begegnen sich in einem wachsenden und harmonischen Verhältnis in matsyasana. Während der Übende sich relativ nahe am Boden bewegt und die Bogenspannung im oberen Wirbelsäulenabschnitt entwickelt, erlebt er sich selbst relativ stark an der Peripherie und erfährt eine Offenheit, die mehr seine Umgebung sensitiv berührend spüren lernt. Das Offenwerden im Fisch ist nicht in passiver Form zu verstehen, gleichsam wie ein vulnerables Sensitivsein, sondern es ist durch das differenzierte Denken, Vorstellen der Stellung oder des Inhaltes der Stellung und das geführte Beobachten durch das Bewusstsein gehalten und gekräftigt. Je klarer differenzierte und beobachtbare Inhalte in einer Übung durch das Bewusstsein bearbeitet werden, desto fundierter entwickelt sich sowohl eine natürliche Offenheit als auch ein inneres zentriertes Erleben, das eine psychische Stabilität gewährleistet. Würde die Übung nur in passivem Offensein getätigt werden, mit starken Durchwölbungen der Wirbelsäule, so könnte sich ein Tor zur Vulnerabilität leicht öffnen. Die Aktivität der Vorstellungstätigkeit, die im Bewusstsein zur asana geleistet wird, und die sich beispielsweise beim Fisch um die gekonnte Anspannung und um das Thema der Differenziertheit bemüht, schenkt in jedem Fall eine günstige Voraussetzung für das Nervensystem, sowohl für das vegetative als auch für das zentrale.
Im Fisch erlebt sich der Übende, wenn er auf diese Weise eine Lernaufgabe absolviert, im sogenannten 5. cakra, im visuddha cakra, dem Zentrum des Kehlkopfes. Obwohl dieses Zentrum nicht aktiv angespannt wird, denn der Hals bleibt nur in der Fortsetzung in einer leichten Spannung, entwickelt sich das Erleben an dieser Region mit einer spezifischen peripheren Offenheit, einer Art Offenheit, die mehr die umliegende Atmosphäre bewusst wahrnimmt. Der Übende erlebt gleichzeitig durch die besondere Bewegung in der Dynamik der Brustwirbelsäule und durch die mentale Aktivität des differenzierten Anschauens und Beobachtens seine eigene Fähigkeit zur Lenkung des Bewusstseins. Er wird sich seiner Denktätigkeit, die immer mit dem Wahrnehmen verbunden ist, bewusster und kann schließlich weitere Lernschritte zu einem geführteren und solideren Empfinden gewinnen. Das fünfte Zentrum zeigt sich im entwickelten Zustand nicht nur am Kehlkopf und an der Schilddrüse, sondern es äußert sich mehr peripher, wie ein blütenhaftes, vom Körper freies, strahlendes, rundes, nach oben und außen gerichtetes Gebilde.
Obwohl die Dynamik gezielterweise mehr in jenen Wirbelsäulenabschnitt fließt, der dem Herzzentrum nahe liegt, das heißt dem 4. Zentrum, aktiviert sich eine Erfahrung, die mehr dem 5. Zentrum eigen ist. Sensitiv und leicht erlebt sich der Übende, wenn er die Stellung mit der richtigen Spannungsverteilung und mit einem differenzierten Einsatz des Bewusstseins leisten konnte. Er erlebt sich deshalb leicht, da er durch die Aktivierung des Bewusstseins eine Art freieres Erkraften seiner Vorstellungen und Wahrnehmungen gewinnt. In Wirklichkeit ist das Bewusstsein nicht aus dem Körper selbst kommend, sondern spiegelt sich nur über das Nervensystem und bleibt in seiner Äußerung frei von diesem.
Die Atmung sollte beim Fisch nicht zwanghaft in die Tiefe geführt werden. Sie sollte möglichst in der Dynamik, wie die Spannung sie einfordert, bleiben und leicht und frei im Rhythmus fließen. Die freie Atmung ermöglicht ein intensiveres Wahrnehmen gegenüber dem Körper und bindet das Bewusstsein nicht unnötig zu intensiv an die Willensaktivitäten.
Heilwirkung der Übung
Die Heilwirkungen dieser Stellung, wenn sie mit differenziertem Bewusstsein ausgeführt wird, sind vor allem jene, die man mit dem Sammelbegriff psychische Stabilisierung bezeichnen kann. Für diese psychische Stabilisierung sollten die vegetativen Nerven nicht unnötig aufgewühlt werden. Wahrnehmungsprozesse, die bewusst geführt werden, und Gedankeninhalte, die in Beziehung zur Übung stehen, schenken dem Einzelnen tatsächlich eine sofortige Ruheempfindung bei gleichzeitiger angenehmer Wachheit des Bewusstseins. Die Sinne sollten bei der Übung nicht zu sehr in die organische Tiefe des Leibes hineingleiten, das heißt, der Übende sollte gar nicht so sehr an sein Herzorgan, an seine Leber oder an seine Verdauung denken, sondern er sollte vielmehr die Aufmerksamkeit auf die geordnete Spannungsverteilung richten und seine Willensenergie auf eine harmonische Durchstreckung der Wirbelsäule einbringen. Der Übende bleibt deshalb in einer klaren Vorstellung, die er auf den Körper ausrichtet und sich dabei nicht in den Körper zu tief hineinversenkt. Er übt mit dem Bewusstsein und bleibt jedoch gegenüber den Emotionen des Körpers einigermaßen frei. Diese Tätigkeit, die durch ein differenziertes Wahrnehmen und Denken zunehmend mehr gelingt und mehr peripher bleibt, örtlich gesehen tatsächlich mehr die Wirbelsäule wie von außen betrachtet und die Spannungsverteilung objektiv erlebt, stärkt die Großhirnrinde, die in der Fortsetzung durch ihre neuen Synapsenschaltungen das vegetative System im besten und vorzüglichsten Sinne ausgleicht.
Unterschiede in der Ausführung
Die Wirbelsäule sollte beim Fisch tatsächlich in den Brustpartien zum Anspannen, sogar zum intensiven, zentrierten Anspannen, gelangen. Viele Personen finden in diese Abschnitte der Mitte nicht hinein und sogar in fortgeschrittenen Kreisen des Yogapraktizierens werden die Spannungen häufig über eine Zusammenziehung des unteren Rückens ausgetragen. Der Übende führt dann mehr als erste Aktivität den unteren Rücken in die Bogendurchwölbung und fördert tendenziell die Lordose. Indem er diese Spannung nicht oben sondern von einem unteren Abschnitt der Wirbelsäule determiniert, kann er sich zwar häufig sehr weit in die Stellung hineinwölben und erreicht gut mit dem Scheitel den Boden. Der Abstand zwischen dem Deltamuskel der Schulter und dem Brustbein ist jedoch weniger weit angesetzt und der Übende kann kaum mehr die exakte Differenziertheit der Spannungsverteilung entwickeln. Energetisch gesehen fließt dann aber die aktivierte Pranaenergie mehr in das zweite Zentrum und akkumuliert sich relativ stark in den unteren Organen. Obwohl das Herzorgan durch die Bogenausspannung offen erlebt wird, kann keine wirkliche Zentrierung in der Schilddrüse und in der Brustmitte entwickelt werden. Die Cakren in der Mitte können auf diese Weise keine anregende Erlebensform gewinnen. Während die Aktivierung der Durchstreckung zwischen den Schulterblättern, verbunden mit einem aktiv getätigten Bewusstsein zur Differenzierung und Wahrnehmung der verschiedenen Phänomene, das humorale Abwehrsystem im Allgemeinen und sogar im Spezifischen stärkt, kann die zu starke Betonung des unteren Rückens im Sinne einer wenig differenzierten Übungspraxis das Abwehrsystem auf Dauer schwächen.
Das differenzierte Denken und Wahrnehmen, das für den Fisch sehr typisch und im Bild der Übung bereits angelegt ist, fördert gleichzeitig ein körperfreies Bewusstsein, das wendig, sinnesfreudig und beziehungsaktiv ist.
Variationen zum Fisch
Für die Praxis des Fisches können die unterschiedlichsten Variationen erfolgen. Der Fisch im Lotus, matsyasana in padmasana, ermöglicht ein sehr zentriertes und sich sammelndes Durchspannen der Brustwirbelsäule. Die einzelnen Stellungen und Variationen lassen sich von einfacheren bis zu schwierigeren entwickeln. Die schwierigste dürfte der Fisch im gebundenen Lotus sein. In dieser Stellung werden auf extremste Weise die Schulterblätter am Rücken zusammengezogen.
Bei allen Variationen ist es empfehlenswert, das Bewusstsein zur differenzierten Beobachtung und des weiteren zu klaren Vorstellungsinhalten gegenüber der Stellung zu erziehen. Jedoch sollte keine zwanghafte Leistungsfixierung, sondern mehr ein empfindsames, schauendes und doch von klarer Vorstellung getragenes Denken im Fisch die Führung behalten.
Möglichkeiten und Ansätze zur spirituellen Entwicklung
Grundsätzlich lebt in einer asana noch keine Spiritualität. Es wäre deshalb falsch, wenn man behaupten würde, dass aus der bloßen Praxis von Körperübungen spirituelle Erfahrungen freigesetzt werden könnten. Die Haltung des Bewusstseins des einzelnen Praktizierenden ermöglicht eine inhaltliche kreative Auseinandersetzung mit der Übung und kann den Körper durch geeignete Vorstellungen beleben, bereichern und schließlich transformieren. Indem der Übende die Körperübung nicht nur nach reinen technischen und körperlichen Konditionen praktiziert, sondern in diese einen Inhalt hineinführt, beispielsweise wie beim Fisch die Vorstellung der differenzierten Spannungsverteilung und die Empfindung der Zentrierung und der Formerhaltung in den Gliedmaßen ausprägt, begleitet vom freien Atem und wacher Beobachtung, erweitert er sein Bewusstsein gegenüber dem Körper und entwickelt einen spirituellen Fortschritt. Das differenzierte Erleben führt zur Freisetzung von freudigen lichten Gedanken, erweckt die Phantasiekräfte der Seele und erhebt im Allgemeinen das Bewusstsein über die Schwere des Körpers. Im Gegensatz zu diesem Sinnesfreudeerleben, das über das differenzierte Denken und über das fünfte Zentrum freigesetzt wird, pocht das sinnliche Dasein, das sogenannte verhaftete Bewusstsein mit dem Körper, das Abhängigsein von dem Fließen der Körpersäfte und ihren ausstrahlenden Launen. Je weniger differenzierte Beobachtungs- und Denkvorgänge stattfinden, desto mehr überwiegen diese vom Körper ausstrahlenden Eigenheiten.
Es ist deshalb für die gesamte Übungspraxis so entscheidend wichtig, dass der Übende nicht an jenen heute bequem und üblich gewordenen Formulierungen wie beispielsweise „Der Fisch öffnet das Herzcakra“ oder „Der Schulterstand regt die Schilddrüse an“ stehen bleibt, denn zum einen sind diese pauschal abgeleiteten Aussprüche nicht immer ganz richtig, sie sind zu dürftig um eine konkrete Aussage über die Gesundheit und Heilwirkung objektiv zu halten, aber zum anderen sind diese Redensarten tatsächlich ganz von der Körperdimension abgeleitet und lassen die wirkliche bewusste Aktivität des Praktizierenden außer acht. Ob der Fisch das Herz-cakra nun öffnet oder ob der Schulterstand die Schilddrüse positiv anzuregen vermag, liegt an der Art und Weise, wie der Übende sich inhaltlich mit der jeweiligen Stellung auseinandersetzt und wie er diese mit seiner gedanklichen und empfindsamen Aktivität erfüllt. Nicht die asana als solche schenkt den gesundheitlichen und spirituellen Nutzen, sondern die schöpferische Auseinandersetzung im Denken, Fühlen und Wollen des einzelnen Praktizierenden.
Die folgenden Variationen des Fisches sind in unterschiedliche Schwierigkeiten gegliedert. Für den Anfang einer Praxis kann die vorbereitende Durchwölbung im oberen Brustwirbelsäulenbereich geübt werden und es kann auf die Beobachtung, Spannungsverteilung und schließlich auf die Möglichkeit des konkreten denkenden Vorstellens die Aufmerksamkeit erfolgen.
Weitere Bilder zum Fisch, seinen Variationen und zur Korrektur dieser Stellungen finden sie in einem eigenen Beitrag