Prof. Dr. Hubertus Mynarek ist Jahrgang 1929 (!), er promovierte in den Fächern Vergleichende Religionswissenschaft und Fundamentaltheologie und lehrte an den Universitäten Bamberg und Wien. Als erster Theologieprofessor im 20. Jahrhundert trat er im Jahr 1972 aus der Kirche aus und musste seither sehr viele Angriffe auf seine Person hinnehmen. Nachdem er vom österreichischen Staat „zwangspensioniert“ wurde, arbeitet er bis heute als freier Schriftsteller. Mittlerweile kann er auf mindestens 40 Buchveröffentlichungen zu den verschiedensten, den Mensch, die Religionen und die Sinnfrage des Lebens betreffenden Themen blicken.
Im ersten Kapitel des Buches „Die Kunst zu sein“ aus dem Jahr 2014 befasst sich Mynarek mit der Frage nach dem Bewusstsein.
Im folgenden möchte ich einen Ausschnitt seines Buches zitieren:
Was gehört nun ganz grundlegend zur Idee eines eigentlich menschlichen, eines wirklich sinnvollen Lebens? Ich antworte: Bewusstheit. Ich muss bewusst leben. Ohne waches Bewusstsein, ohne die Hinlenkung des Strahls meines Bewusstseins auf alle Ecken, Spalten und Schatten, Gründe und Abgründe in mir, in meiner Psyche, und ohne den bewussten Ausblick in die mitmenschliche Umwelt sowie in die Weiten der Natur und des Kosmos kann ich mein Leben nicht zu seinem eigentlichen Sinn emporführen, vermag ich es nicht zur Harmonie zu bringen.
An dieser Stelle werden Sie, lieber Leser, vielleicht Einspruch erheben, einen Einspruch, der etwa so lauten könnte: „Wenn ich lebe, intensivst lebe, dann will ich alles vergessen, dann will ich von keinem Bewusstsein gestört werden und nur die reine Lust des Daseins verspüren.“ Sie sehen, der Einwand enthält bereits seine Widerlegung. Es ist zwar wahr, dass man gerade bei intensivsten Erlebnissen (und Er-leb-nisse enthalten ja das Leben in seiner schönsten und genussvollsten Form!) an nichts Negatives denken oder erinnert werden will, jedes Bewusstsein an außerhalb des Erlebnisses Liegendes stört. Aber die „Lust des Daseins“, wie sie im Erlebnis gegenwärtig wird, die wollen Sie doch spüren, intensiv und mit aller Wachheit der Sinne. Ein solches Spüren aber ist Bewusstsein, der Psychologe würde sagen: erlebnisimmanente Bewusstheit. Ohne sie wäre Ihr Erlebnis kein Erlebnis, sondern irgendein anonymer, bewusstloser Vorgang. Sie wüssten nicht mal, worum es sich handelt. Hier sehen wir schon: Höchste Intensität, enormste Spannkraft des Lebens und wachste Bewusstheit des Lebens schließen sich nicht aus, sondern ein; sie bedingen einander wechselseitig. Ich kann auch nicht genießen, ohne mir diesen Genuss bewusst zu machen. Der Feinschmecker genießt deshalb eine Speise mehr als andere, weil er sie bewusster empfindet, weil er sie sich konzentrierter „zu Gemüte führt.“
Bewusstsein ist zweifellos jenes wunderbare Organ, welches uns ganz allein in die Lage versetzt, das Leben in seiner einzigartigen Größe und in allen seinen atemberaubenden Dimensionen wissend zu erfassen. Es ist nicht so, es muss jedenfalls nicht so sein, dass das Bewusstsein als Störenfried agiert, dass es die Lust des Lebens, die Freude am Leben behindert oder verringert. Eine Zeitlang, auch noch in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts, gehörte dieses Vorurteil, dass das Bewusstsein das Leben beeinträchtige, seine Lebendigkeit und Spontaneität zerstöre, zu den Dogmen vieler Intellektueller. Ludwig Klages‘ dreibändiges Monumentalwerk „Der Geist als Widersacher der Seele“ war sozusagen das psychologisch-philosophische Manifest dieser negativen Sicht des Bewusstseins, des Geistes, der die Seele als Prinzip des Lebens und damit dieses selbst von allem Konkreten und vom mütterlichen Nährboden der Erde abziehe und abtrenne. Aber Bewusstsein ist keineswegs nur das Bewusstsein des Abstrakten und Allgemeinen (so dass der Geist, das Bewusstsein hier – bei Klages und anderen – ganz willkürlich eingeschränkt wurde), und es ist ebenfalls nicht nur das Bewusstsein technischer Manipulationsmöglichkeiten, die das Leben, seine Spontaneität und Lebendigkeit, zu einem toten Mechanismus erstarren lassen. Bewusstsein ist, wie das lateinische Wort con-scientia das gut zum Ausdruck bringt: Mit-wissen, stets und treu begleitendes Wissen um das, was gerade geschieht, geschehen kann oder geschehen ist. Bewusstsein kann – je nach dem, worauf wir die Aufmerksamkeit lenken – Spüren, Empfinden, Erfahren, intimes Wissen des Konkretesten und Lebendigsten sein. Sicher, das Bewusstsein, dass etwas negativ oder gar tragisch ist, kann die Sache noch negativer bzw. tragischer erscheinen lassen. Aber umgekehrt ist es auch so: Das Bewusstsein, die Bewusstmachung eines positiven Tatbestands macht die Sache noch positiver, noch angenehmer u.Ä. Das höchste Glück, die größte Seligkeit für den Menschen ist bewusst erlebtes Glück, bewusst erfahrene Seligkeit.
Außerdem: Es gibt keinen Weg zurück. Auf die niedere Stufe des Bewusstseins der Tiere können wir nicht mehr zurückgelangen. Das bekannte Wort Teilhard de Chardins markiert eine nicht mehr rückgängig zu machende Grenze: „Sicherlich, das Tier weiß. Aber der Mensch weiß, dass er weiß.“ Das Tier, zumindest die höher organisierten Arten, empfindet Freude und Schmerz, Angenehmes und Unangenehmes, Geborgenheit und Gefahr, Sättigung und Hunger usw. Aber der Mensch weiß noch einmal um diese Empfindungen, er verdoppelt sie, wodurch er sie vertieft, erhöht, intensiviert… Bewusstsein ist allerdings auch Bewusstsein von Negativem, und da das Negative dann doppelt schrecklich vor unserem geistigen Auge stehen kann, sehnen wir uns in solchen Augenblicken nach der sorglosen, unbekümmerten Einheit des Tieres mit der Natur zurück. Auch wir, die Menschen, sind ja in Wirklichkeit viel abhängiger von der Natur, viel gebundener an sie als unser noch zum größten Teil herrschendes Weltbild das zugeben will. Aber das Niveau der reflexionslosen, „paradiesischen“ Einheit mit der Natur, auf dem sich das Tier ganz selbstverständlich befindet und bewegt, werden wir nie mehr zurückerlangen. Wir sollten das auch gar nicht wollen. Erich Fromm meint dazu in dem Buch „Die Kunst des Liebens“: „Wesentlich an der Existenz des Menschen ist die Tatsache, dass er sich über das Tierreich, dass er sich über die instinktive Anpassung erhoben hat und dass er die Natur transzendiert – obgleich er sie niemals ganz verlassen kann. Er bleibt ein Teil von ihr; und dennoch von ihr losgerissen, kann er nicht mehr mit ihr eins werden. Vertrieben aus dem Paradies, aus dem Stadium der ursprünglichen Einheit mit der Natur, versperren ihm die Cherubim mit dem Flammenschwert den Weg, falls er jemals versuchen sollte, dorthin zurückzukehren. Der Mensch kann nur immer weitergehe, indem er seine Vernunft entwickelt, indem er eine neue, eine menschliche Harmonie an Stelle jener vormenschlichen Harmonie findet, die unwiederbringlich verloren ist.“
Heinz Grill äußerte sich hierzu wie folgt:
Auch für das Praktizieren des Yoga in sinnvoller und entwicklungsförderlicher Weise bedeutet die Entwicklung des Bewusstseins so viel wie eine Arbeit mit inhaltlichen Themen. Heute neigt man dazu, den Yoga als reine äußere gymnastische Methode ohne Erkenntnisbildung und ohne inneren philosophischen Gehalt zu praktizieren und arbeitet zuletzt sogar vielfach ohne Bewusstseinsinhalte und ohne Bewusstheit gegenüber dem seelisch-geistigen Dasein. In diesem Sinne sind die Schriften von Prof. Dr. Mynarek außerordentlich wertvoll, da sie an die individuelle Notwendigkeit einer philosophischen Auseinandersetzung mit entscheidenden Lebensfragen appellieren.
Buchempfehlungen aus dem Werk von Hubertus Mynarek:
- Die Kunst zu sein, Angelika Lenz Verlag 2014
- Herren und Knechte der Kirche, AHRIMAN-Verlag 2014 (Aktualisierte Neuauflage!)
- Unsterblichkeit, Verlag Die blaue Eule, 2005
- Neun “goldene” Regeln für die neuen Inquisitoren, Aufsatz in: Besier/Scheuch (Hrsg.), Die neuen Inquisitoren, Edition Interfrom, 1999