Artikel von Heinz Grill:
Teil 1
Wahrnehmungsstörung?
Es gibt heute ein Phänomen, das sehr weit verbreitet ist und im Allgemeinen mit dem Begriff „Wahrnehmungsstörung“ diagnostiziert werden kann. Die Süddeutsche Zeitung gibt an, sie hätte im besten Sinne für ihren Artikel „Der Guru“ recherchiert und beklagt sich nunmehr, dass sogar eine „Gegenöffentlichkeit“ mit einer ganz anderen Wahrnehmung zu den unterschiedlich gebrauchten Pejorativa geschildert wird. Eine Wahrnehmungsstörung entsteht in der Regel dann, wenn der Betrachter die Emotionen, die er in seinem Inneren trägt, mit der zu beschreibenden Wirklichkeit verwechselt. Unabhängig von der faktenlosen Darstellung der Zeitung, die gekünstelte Hypothesen sammelt, fordert die Zeitung mehr oder weniger indirekt auf, sich mit dem Phänomen Gruppe und Spiritualität auseinanderzusetzen.
Gibt es eine individuelle Spiritualität?
Gibt es überhaupt eine tragfähige, individuelle Spiritualität oder muss jeder, der sich an die scheinbar ersten so wagnisreichen metaphysischen Ebenen herantastet, Gruppierungen, Kirchen oder einem Guru hinwenden?
Wahrnehmungsstörungen scheinen im besonderen Maße dann vorzuliegen, wenn sich Personen zu stark in Gruppen zusammenschließen oder wenn sie von dem emotionalen Bild, das eine Gruppe prägt, Andere oder Einzelpersonen beurteilen wollen.
Man stelle sich einmal das Beispiel eines referierenden Lehrers, Priesters oder sogar eines indischen Gurus vor und karikiere im Gedankenspiel eine nicht selten vorzufindende typische Situation. Die Zuhörer folgen den verkündeten Worten und akkumulieren diese in ihr Inneres. Sie sind devotional, ergeben, wie eine Herde von Schafen, heiter blökend und treu dem Leithammel folgend. Von innen heraus verherrlichen sie, wie es ihnen nach ihrem Instinkt gebührt, den Referenten und fügen sich wie umarmend mit allen Anderen in eine Art geschlossenes Energiefeld. Zweifelsfrei, nach ihrer Überzeugung des Glaubens, haben sie die richtige Seite gewählt und fühlen sich wie „angekommen“, wie an einem Ort des Vorparadieses. Der Referent lächelt zwischendurch, dann tadelt er die Gesellschaft, schließlich reißt er einige Witze und schwingt sich mit den Emotionen des Publikums auf ein Niveau ein, wie wenn eine Geburtsfeierlichkeit mit „Happy Birthday“ gefeiert werden würde. Sie gehören zu den Erretteten. Man könnte als ein naiver Betrachter den Eindruck gewinnen, man sei auf Elysion, der Insel der Seligkeit bereits im Irdischen angekommen. Ein Schwingungsfeld der Zustimmung und des indifferenten Einsseins entsteht. Nachdem das Referat zu Ende ist, sagt einer der Teilnehmer: „Ich weiß, das, was der Referent gesprochen hat ist wahr, weil es mir sehr geholfen hat.“
Der scheinbar über alle gut gegründete Philosophie erhabene Subjektivismus, verbunden mit einem guten Anteil von verborgenen emotionalen Bedürfnissen, führt im Allgemeinen in religiösen Gruppen zu jenen eigenartigen Wahrnehmungen, die befremdend sind. Die Schreiber der Zeitung arbeiten nahe in Zusammenhang mit der Kirche und der religiös nachfolgenden Gruppe der verstorbenen Ärzte B. Nahezu alle Informationen, die im Artikel „Der Guru“ erscheinen, entspringen aus einem Kreis, der sich selbst als Verschwörungskreis bezeichnet. Der Artikel ist deshalb ein religiöser Artikel, inspiriert und motiviert aus einer dogmatischen Gruppe, die nichts anderes verfolgt, als Menschen durch Meinungsbildung zu beherrschen. Es handelt sich um eine verdeckte Mission, die die Familie B. in München beabsichtigt. Der Zeitungsleser wird jedenfalls nicht in seiner gesunden Wahrnehmung gegenüber religiösen Phänomenen geschult, sondern geschickt in eine Projektionswelt der Kirche geführt.
Der Steinbock unter den Schafen
Wenn man nun wieder zu dem geschilderten Bild einer typischen religiösen Gruppe zurückkehrt, zu der selbstgeschaffenen Insel der Seligkeit, kann man zu dieser ein leicht von Unbequemlichkeit angehauchtes Bild hinzufügen. Das Vorparadies auf Erden ist scheinbar nur für Bevorzugte der Kirche und Mitglieder von Gruppen geeignet. Man stelle sich noch einmal die gleiche Gruppe vor und dass einer der Anwesenden im Raum still im Hintergrund sitzt, sich dem allgemeinen Strom der Seligkeit nicht widmet, sich positioniert, indem er die vortragende Person näher zu studieren beginnt und des Weiteren die Worte, wie und in welcher Art sie gesprochen werden, nach logischen, philosophischen und ästhetischen Inhalten erwägt. Sein Gesicht wirkt nicht verklärt, die Augen blicken nach außen mit Ernsthaftigkeit und bewegter Umsicht. Fast könnte man im Treiben der seligmachenden Emotionen diesen einzelnen Zuhörer übersehen, da er im Strombett der Seligpreisungen noch gar nicht angekommen ist. Aber sein Rückgrat ist mit Interesse aufgerichtet und weil er so sehr anders erscheint, nimmt man ihn doch plötzlich als fremde Identität wahr, gleichsam als hätte sich in eine Herde mit Schafen ein Steinbock eingeschlichen. Welch eine unbeugsame Kreatur, steif und gehörnt! Die Betrachtung eines Steinbockes mit seinen überdimensionierten Hörnern könnte die Frage aufkommen lassen, ob der Schöpfer sich in den Proportion, wie das Horn und der Körper zusammenpassen, verrechnet hat, aber das Tier trägt mit Würde dieses übermächtige Horn und nimmt die unbequeme Aufgabe einer souveränen alleinstehenden Position an. Es folgt nicht dem bellenden Hirtenhund und dem Leithammel, sondern erschafft ein Gegenüber, eine Art Positionierung. Dem Steinbock in der Schafherde würde man wohl aus heutiger psychologischer Sicht eine Wahrnehmungsstörung diagnostizieren, denn er befindet sich am falschen Orte und erscheint unter den wolligen Schäflein wie beziehungsunfähig. An den seligmachenden Emotionen kann er aufgrund seiner gehörnten Außenseiternatur nicht teilnehmen. Seine Haltung mit seinem erhabenen Kopf und großen runden Hörnern wirkt wie arrogant.
Auf die heutige, moderne Moralität bezogen, gilt wohl in vielen Fällen derjenige, der diese aktive Auseinandersetzung mit der Person und den dargelegten Worten beginnt, als uneingeordnet, unbeugsam und vielleicht bezeichnen ihn manche, die aus der Schule des gesellschaftlich kirchlichen Gehorsams kommen, mit dem Begriff psychisch erkrankt. Heute, so wird man sagen, existiert ein Internet und der moderne Bürger informiert sich über die Gruppen, die „gut und wahr“ sind. Wer will im Reich der seligen Schäflein den steifen Außenseiter, den Steinbock dulden? Dieser könnte mit seiner Sicht die harmonischen Emotionen stören und den Paradiesesgenuß verleiden. Solle er doch in sein einsames Gebirge zurückkehren und den Schäflein die letzte Stufe der Vollendung vergönnen.
Schäflein und ihre Leithammel
In Gruppen findet man verschiedene Schäflein und auch verschiedene Leithammel. Manche sind durch die Schule der Devotion gegangen und bleiben immer den Obrigkeiten hörig. Sie lesen die Zeitung und fühlen sich beängstigt. Die biedere Ehefrau sagt:„Wie schlimm ist es heute in der Welt! Es wird uns noch alles genommen.“ Diese devotionalen Frauen gehen in die Kirche, beten für ihre Familie und erhoffen, dass ihr Gebet erhört werde und die Söhne und Töchter niemals in die Maschinerie der Gehirnwäsche des Guru geraten. Vielleicht mag der Ehemann den Besuch im Wirtshaus – ein nur anderer Ort, an dem aber ebenfalls weisheitsvolle Salbungen stattfinden – mit seinen Stammeskumpeln bevorzugen, und bei einer Halben lautstark sprechen: „Dem Scheißkerl werden wirs zeigen!“
Wieder andere Schäflein, die langsam zum Leithammel aufsteigen, gehen durch die Schule der scheinbaren Meinungsbildung. So sagte zum Beispiel nach dem Lesen des Zeitungsartikels ein deutscher prototypischer Arbeitgeber zu seinem langjährigen Arbeitnehmer: „Ich bin kirchenkritisch und ich bin auch nicht gesellschaftstreu. Ich bilde mir meine eigene Meinung und tue was die Moralität von mir verlangt; aber wenn es sich einmal um einen Mörder, wie den erwähnten Guru handelt, kann ich Sie nicht mehr länger beschäftigen, da Sie ein Seminar bei diesem besucht haben. Ich weiß“, so zum Mitarbeiter sprechend, „dass Sie selbstständig denken und fachlich tadellos sind, aber Sie müssen wissen, dass ich mir in meinem Betrieb keine Rufschädigung leisten kann. Was sagen die Leute? Man muss heute konform bleiben.“
Diese eigentümlichen Widersprüchlichkeiten von devotional orientierten und scheinbar emanzipierten Menschen zeigen bereits Wahrnehmungsverkehrungen mit einem latenten Potential von Gespaltenheit. Der Begriff der Moralität wird heute von der kirchlichen Meinung und den Medien bestimmt.
Für denjenigen jedenfalls, der sich die Mühe auferlegt, eine intensivere Anschauung mit richtiger Urteilsfindung zu bilden und seine Moralität nicht nach vorgegebenen Manipulationen ausrichtet, sondern sich ein tieferes Gewissen für Wahrheit und für dauerhafte Werte bildet, sind die verächtlichen Blicke von den sogenannten braven und guten Menschen der Gesellschaft sicher. Die wirkliche Auseinandersetzung führt den Einzelnen zu einem riskanten Stand, der nicht mehr der Masse entspricht und seine Ausgrenzung wird so sicher wie das Amen in der Kirche.
Es braucht gesunde Wahrnehmungsprozesse
Die erste Grundlage für eine individuell orientierte Spiritualität liegt in der Entwicklung von gesunden Wahrnehmungsprozessen und einer daraus folgenden individuellen Urteilsbildung. Derjenige, der sich auf den Weg einer geistigen Verwirklichung begibt, muss sich sowohl mit sich selbst, als auch mit verschiedenen Denkern der Zeit, Autoren, Referenten und religiösen Bewegungen auseinandersetzen. Es wird wohl nicht genügen, wenn er zu der Erkenntnis kommt, dass er infolge der Skandale des Missbrauches aus der Kirche austreten müsse. Die Erziehungsmodelle der kirchlichen Obrigkeiten und die unhaltbaren theologischen Einseitigkeiten mit autoritativer Macht gruben tiefe Furchen in die Denkvorstellungen und Gefühle der Menschheit, sodass heute der Mensch etwas in sich trägt, das, wenn er es nicht auf solide psychologische Weise löst, ihn abhängig zeichnet. Die verborgenen, unbewusst übernommenen Dogmen machen den Menschen abhängig. Aus diesem Grund kann ein Zeitungsartikel wie „Der Guru“ mit all seinen faktenlosen Darstellungen auf den Leser eine angstberauschende Wirkung entfalten. Eine individuell orientierte Spiritualität benötigt nicht nur ein äußeres Unabhängigsein von Gruppierungen und übergriffigen angenommenen Dogmen, sondern ein wirkliches inneres Freiwerden von allen im Unbewussten ruhenden Kollektivvereinnahmungen.
Eine persönliche Schilderung
Lassen Sie mich abschließend zu einem persönlichen Beispiel kommen. In der Kindheit wussten wir, das heißt einige wenige Jungs in der Schulklasse, dass man den Lehrer zu fürchten habe, der sein Fach nicht beherrscht und im Gegensatz dazu, den Lehrer lieben kann, der seine Methodik durchdrungen hat und wusste, von was er sprach. Die Wahrnehmungen richteten wir deshalb immer mehr auf den Lehrer und erst im zweiten Moment auf den Lehrstoff. Es war jedenfalls in der vierten Klasse der Grundschule. Zu dieser Zeit wurde erstmals der Englischunterricht eingeführt und der Klassenlehrer, ein Diakon, musste uns Bübchen diese Fremdsprache einflößen. Nun war die Tragik, wie wir das in unserem naiven kindlichen Gemüt sehr stark miterlebten, dass dieser Lehrer in der englischen Sprache nicht ausgebildet war und er nur einige Worte und grammatikalische Formeln nach deutscher Manier willkürlich zusammenschmolz. Er konnte kaum Englisch. Nun beherrschte meine Mutter aber fließend Englisch, das war ein Umstand, der zu dieser Zeit in einem Dorf sehr selten war und ich erlebte durch sie und ihre nahe Verbindung zu Amerika auf natürliche Weise die englische Sprache.
Der Diakon war sehr autoritativ, gefürchtet und die Prügelstrafe erschien im täglichen Ritual. Seine Aussprache in Englisch war derartig schlecht, dass ich gar nicht umhin konnte, als eine bessere Wahrnehmung zu den Worten aufzuzeigen. Der Lehrer artikulierte das Wort money buchstabentreu so wie wenn es ein Deutscher vom Blatt ablesen würde und es nicht als englisches Wort indentifiziert. Mir erklang dieses Wort so schrecklich, dass ich es nicht ertragen konnte und als ich an der Reihe mit der Aussprache des Wortes war, sagte ich schlichtweg „mani“. Klatsch- die erste Ohrfeige saß.
„Mooneeii“ erwiderte der Lehrer, um mir beizubringen, wie fehlerhaft meine Artikulation sei.„Manni“ sagte ich schroff und widersetzte mich der falschen Aussprache. Mooneeii – manni, mooneeii – manni. Ein Schauspiel des Wortkampfes zwischen Lehrer und Schüler ereignete sich im Klassenzimmer. Eine Serie von Ohrfeigen begleiteten diese Zeremonie. Ich weiß bis zum heutigen Tag nicht, warum ich nicht nachgeben wollte, jedenfalls nahm ich lieber die Ohrfeigen in Kauf, bevor ich mich der falschen Aussprache gebeugt hätte.
In der nächsten Englischstunde war ich hochgerüstet, ich hatte ein Büchlein mit Lautschrift dabei, das ich in der Stunde vorlegte, nahm meine Mutter zum Alibi und gab vor, dass diese durchaus von der Aussprache des Lehrers mit „monei“ entsetzt sei. Der Lehrer musste nun sein Dogma unter dem Schweiß, der ihm plötzlich auf die Stirne gestiegen war, beugen. Da er wusste, dass meine Mutter lange Jahre in Amerika gelebt hatte, war es vor der gesamten Klasse für ihn und seine autoritative Machthaltung nicht leicht, das „mani“ zuzugestehen. Er hatte das Dogma, dass der Schüler dumm ist und der Lehrer allwissend. Unter diesen Voraussetzungen der subjektiven Wahrnehmungen unterrichtete er auf tyrannische Weise die Klassen.
Die Antwort des Lehrers aber war jene, dass ich am Jahresende die Note 4 für meine Englischkenntnisse erhielt. Eigenartigerweise konnte ich in den nächsten, höheren Schulen, in der diese Machtkämpfe nicht mehr stattfanden und ordentliche Englischlehrer unterrichteten, in sehr vielen Episoden mit einer 1 abschließen. Hatte der Lehrer in der Grundschule vielleicht eine Wahrnehmungsstörung? Nach meinen Einschätzungen hätte der Lehrer sich selbst eine 6 geben müssen.
Die gesunden und frei geformten Wahrnehmungen sind die ersten notwendigen Prozesse zu einer wirklichen geistigen Selbstständigkeit. Entwickeln sich jedoch die Wahrnehmungen aufgrund reiner Dogmen, Gruppengefühlen und Emotionen, darf man durchaus von Wahrnehmungsstörungen sprechen.
Der Mut zu einer gesunden Wahrnehmung seinem Lehrer gegenüber, gleich ob es ein Schullehrer oder ein spiritueller Lehrer ist, schenkt eine Grundlage zur individuell orientierten Spiritualität.
Es folgt ein zweiter Teil.